Ungewissheit
Paul.Bayer am 1. September 2010 um 17:55John R. Boyd (1927-1997) war ein Kampfpilot und Stratege der US Luftwaffe, der Vater der F15, F16 und F18 Jets. Er interessierte sich früh für das Toyota Produktionssystem als Modell operativer Exzellenz. Boyd studierte wissenschaftliche Arbeiten im Umfeld der Physik, Erkenntnis- und Komplexitätstheorie als Grundlage für seine Strategien, die er in den 80-er und 90-er Jahren entwickelte und als Berater in das Pentagon einbrachte. Er ist der Schöpfer der OODA-Schleife, einem eleganten Modell des strategischen Handelns und Lernens. Boyds Arbeiten sind für wirtschaftliches Denken und Handeln höchst relevant [1].
Das Ende der Gewissheit
Der Grund für Boyds Relevanz ist, dass seine Überlegungen auf dem Anerkennen einer fundamentalen Ungewissheit in der Welt aufbauen. Damit war er der erste bekannte strategische Denker der Neuzeit, der den Paradigmenwechsel der Wissenschaft im 20-ten Jahrhundert nachvollzogen hat, den Ilya Prigogine das „Ende der Gewissheit“ [2] genannt hat. Je unsicherer die Situation wird, desto relevanter wird Boyds Arbeit.
Nach seinen Erfahrungen als Kampfpilot hatte Boyd ein intuitives Verständnis von Ungewissheit und Unvorhersagbarkeit. Umso rätselhafter war es für ihn, dass die gängige Auffassung und Doktrin die Ungewissheit als Handlungsgrundlage weitgehend ausblendete und eher von deterministischen Annahmen ausging [3]. Das war wohl der Ausgangspunkt von Boyds „Blick über den Tellerrand“ in die Wissenschaft. Welche Perspektive nahm er nach seinen Studien ein?
Was für ein interessantes Ergebnis! Nach Gödel können wir – allgemein gesagt – die Konsistenz, also den Charakter oder die Natur eines Systems nicht aus ihm selbst heraus bestimmen. Nach Heisenberg und dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik wird jeder Versuch, das zu tun, Ungewissheit zu Tage bringen und Unordnung schaffen. Zusammengefasst unterstützen diese drei Konzepte die Idee, dass jeder nach innen gerichtete und fortgesetzte Versuch, die Übereinstimmung eines Konzepts mit der Realität zu verbessern, nur das Ausmaß der Nicht-Übereinstimmung vergrößern wird. [4]
Diesem Dilemma können wir nach Boyd temporär ausweichen, indem wir die Grenzen des Systems verlassen und ein System (Konzept usw.) einer höheren und allgemeineren Ordnung erschaffen, das die Realität besser erklärt. Aber damit beginnt der Zyklus der Selbstzerstörung des Systems nur von neuem.
… die verschiedenen Theorien, Systeme, Prozesse usw., die wir einsetzen, um in dieser Welt Sinn zu machen, enthalten Eigenschaften, die Diskrepanzen erzeugen, die dann umgekehrt eine solche Welt ungewiss, in ständiger Veränderung und unvorhersehbar halten.
Diese Eigenschaften beinhalten:
- Ungewissheit im Zusammenhang mit den Theoremen der Unbeschränktheit, Unentscheidbarkeit und Unvollständigkeit der Mathematik und Logik.
- Numerische Ungenauigkeit im Zusammenhang mit der Verwendung rationaler und irrationaler Zahlen in Berechnungs- und Messprozessen.
- Die Quantenunschärfe im Zusammenhang mit Plancks Konstante und Heisenbergs Unschärferelation.
- Entropiezunahme im Zusammenhang mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik.
- Irreguläres und erratisches Verhalten im Zusammenhang mit fern vom Gleichweicht operierenden, offenen, nichtlinearen rückgekoppelten Prozessen oder Systemen.
- Unverständlichkeit im Zusammenhang mit der Unmöglichkeit, spaghettiähnliche Einflüsse aus einer Fülle ständig wechselnder, erratischer oder unbekannter äußerer Ereignisse vollständig zu erfassen, zu filtern oder sonst zu berücksichtigen.
- Mutationen im Zusammenhang mit Umweltdrücken, Replikationsfehlern oder in der Molekular- und Evolutionsbiologie unbekannten Einflüssen.
- Vieldeutigkeit im Zusammenhang mit natürlichen Sprachen, so wie sie benutzt werden und aufeinander einwirken.
- Neuigkeit im Zusammenhang mit dem Denken und den Handlungen einzelner Personen und ihren vielfältigen Wechselwirkungen untereinander.
Es gibt keinen Ausweg solange wir diese Eigenschaften nicht ausschalten können. Weil wir nicht wissen, wie wir das tun können, müssen wir den Wirbel von Reorientierung, Mismatches, Analysen/Synthese wieder und wieder unendlich wiederholen als Grundlage, um eine sich entfaltende, entwickelnde Realität zu verstehen, sie zu formen und uns an sie anzupassen, die ungewiss, ständig im Wandel und unvorhersagbar bleibt. [5]
Ein Paradigma für Überleben und Wachstum
Boyd schließt seine Überlegungen mit einigen Schlussfolgerungen für Strategie:
Wenn wir diesen ständigen Wirbel aus Reorientierung, Mismatches, Analysen/Synthese und das Neue, das daraus hervorgeht, mit der vorangegangenen Diskussion verbinden, können wir sehen, dass wir eine konzeptionelle Spirale haben für
• Erforschen – Entdecken – Innovation • Denken – Tun – Erreichen • Lernen – Verlernen – Neulernen • Verstehen – Gestalten – Anpassen Also eine konzeptionelle Spirale zum Erzeugen von:
• Erkenntnis – Einfallsreichtum – Initiative Das wirft die Frage auf: Können wir ohne diese Fähigkeiten überleben? Nein!
Das bedeutet: Die konzeptionelle Spirale bildet
ein Paradigma für Überleben und Wachstum.Punkt: Da Überleben und Wachstum direkt mit der ungewissen, ständig sich wandelnden, unvorhersagbaren Welt von Gewinnen und Verlieren verbunden sind, werden wir diese wirbelnde (konzeptionelle) Spirale von Orientierung, Mismatches, Analysen/Synthese, Reorientierung, Mismatches, Analysen/Synthese … ausnutzen, so dass wir diese Welt und das Neue, was daraus hervorgeht, verstehen, damit umgehen, sie formen und davon geformt werden. [6]
In einer fundamental ungewissen, unbeständigen und instabilen Welt hängen Überleben und Wachstum von der Fitness ab, mit der Ungewissheit umzugehen, sie zu nutzen und darin Sinn zu erzeugen – besser als die Wettbewerber. Die aufgeführten Fähigkeiten der „konzeptionellen Spirale“ sind die Elemente dieser Fitness, Auslöser von Gewinn oder Verlust.
Boyd zeigte, dass das Anerkennen der Ungewissheit in der Welt notwendigerweise zu operativer Exzellenz als Strategie führt. Und schließlich: je unsicherer diese Welt ist oder wird, desto notwendiger und erfolgversprechender sind strategische, taktische und operative Fitness. Es wird interessant, zu sehen, welche weiteren Schlussfolgerungen er daraus ableitete.
am 1. September 2010 um 18:43 Uhr.
Hi Paul,
vielen Dank für diesen inspirierenden Blogeintrag. Manchmal sind es diejenigen, die auf den ersten Blick nichts mit Lean zu tun haben (“Was hat ein F15 Konstrukteur mit Lean zu tun?”), wirklich den Blick in den den Möglichkeitsraum öffnen
Beste Grüße und Serendipity lässt grüßen, Ralf
am 1. September 2010 um 22:07 Uhr.
Hallo Ralf,
Boyd hat u.a. Industrial Engineering studiert und bereits Anfang der 70-er Jahre das TPS kennengelernt. In Ohnos und Shingos Arbeit erkannte er den Geist der japanischen Kampfkünste wieder und war sofort davon fasziniert. Sein Hauptbeitrag beim Design der Kampfjets war übrigens, sie auf das Wesentliche zu reduzieren und die ganze überladene Technik rauszuwerfen. Sein Hauptthema war Agilität (fast transients). Chet Richards hat in „Certain to Win“ die Zusammenhänge zwischen Boyds Strategien und dem TPS näher beleuchtet.
Viele Grüße,
Paul