John Boyd über Doktrin
Paul.Bayer am 8. September 2010 um 21:58John Boyds Gedanken drehten sich um Ungewissheit und um die richtigen strategischen, taktischen und operativen Antworten auf eine ungewisse, sich ständig verändernde Welt. Kein Wunder, dass ihn die Zuhörer seiner Vorträge – meist Offiziere – nach seiner Meinung zu Doktrin fragten. Das nachfolgende Video zeigt Boyd 1992 im Air War College nach seinem Briefing zur „Conceptual Spiral“ bei der Antwort auf diese Frage:
Die Luftwaffe hat eine Doktrin, die Armee hat eine Doktrin, die Marine, jeder hat eine Doktrin. Aber wenn Sie meine Arbeit lesen, erscheint das Wort „Doktrin“ dort nicht ein einziges mal. Sie können es nicht finden. Wissen Sie, warum ich es nicht drin habe? Weil es am Tag eins Doktrin ist, und jeden Tag danach wird es Dogma. Darum!
Ja, ich verstehe, dass Sie eine Doktrin schreiben müssen, und das ist in Ordnung … Aber sogar nachdem Sie sie geschrieben haben, nehmen Sie an, dass sie nicht stimmt. Und schauen sie sich eine Menge anderer Doktrinen an – die Doktrin der Deutschen, weitere Doktrinen – und lernen Sie diese auch. Und dann haben Sie einen Haufen Doktrinen, und der Grund, dass sie sie alle lernen wollen ist, dass sie nicht von irgendeiner vereinnahmt werden, und Sie können hier Zeug herausnehmen und dort Zeug herausnehmen … dann spielen Sie das Schneemobil-Spiel [1] und fahren so besser als irgend ein anderer.
Wenn Sie nur eine Doktrin haben, dann sind Sie ein Dinosaurier. Punkt.
„Boyd glaubt an eine sich ständig erneuernde Welt, die ungewiss, ständig im Wandel, unvorhersagbar ist und deswegen erfordert, dass wir unsere Theorien und Systeme, um mit ihr umzugehen, ständig revidieren, anpassen, zerstören und neu erschaffen.“ [2] Entsprechend hat sich Boyd gesträubt, seine strategische Theorie als Buch aufzuschreiben. Ihm war die dynamische Form der Präsentation lieber. Und er passte seine Präsentationen immer und immer wieder an.
Ohnos Bedenken
Taiichi Ohno, der Schöpfer des Toyota Produktionssystems teilte Boyds Furcht vor Dogmatisierung und Erstarrung. Aufgrund seiner Bedenken, dass mit einer Codifizierung die Entwicklungsdynamik und Anpassungsfähigkeit des TPS verloren gehen könnte, wurde das Toyota Produktionssystem erst spät, nach seinem Tode in ein Handbuch gefasst. Beim heutigen Umgang mit „Lean“ haben sich Ohnos Befürchtungen eher bewahrheitet: statt das TPS als System des Lernens und der dynamischen Entwicklung und Anpassung zu begreifen, wird es eher als Doktrin gesehen und häufig ohne Verständnis „implementiert“ – mit oft zweifelhaften Erfolgen.
Doktrin und Dogma als Sicherheiten
Den meisten Leuten machen John Boyds, Ohnos, Demings, Goldratts … dynamische Welten der Ungewissheit und des ständigen Wandels eher Angst. Solche kreativen Denker passen nicht ins Establishment, da sie die geliebten Doktrinen, Paradigmen und Dogmen und ihre Scheingewissheiten und scheinbaren Sicherheiten zerstören und beschmutzen.
Ist es nicht paradox, dass die Erneuerer, die von Dynamik, Ungewissheit und Unvorhersagbarkeit ausgehen, von der Mehrheit der Pragmatiker und Konservativen nur akzeptiert werden, wenn sie ihnen helfen können, die Dynamik, Ungewissheit und Unvorhersagbarkeit zu reduzieren?
In einem neueren lesenswerten Essay erzählt uns Cynthia Kurtz, wie Kernbotschaften der Chaos- und Komplexitätsforschung in der Businessliteratur so entstellt werden, dass sie für die Leser bequemer und leichter anzunehmen sind – nämlich ohne ihre beunruhigenden Elemente der Ungewissheit und Unvorhersagbarkeit. Sie macht dann aber auch einen pragmatischen Vorschlag, wie man mit dem verbreiteten Bedürfnis nach Sicherheit besser umgehen kann:
Zunächst höre auf damit, zu sagen, dass alles komplex ist und fang darüber an zu reden, wie Komplexität und Hierarchie zum gegenseitigen Vorteil sein können. … Wenn du die Komplexität nicht fürchtest und sie als Teil der Realität siehst, aber nicht als ganz neue Realität mit einem einstürzenden Himmel, dann musst du sie auch nicht wegdrücken. … Du kannst lernen, [komplexe Entwicklungen] zu erkennen, mit ihnen umzugehen, mit ihnen zu arbeiten und mit der Zeit sie sogar als alte Freunde zu begrüßen. [3]
Das entspricht meinen Erfahrungen: wenn wir praktische Möglichkeiten aufzeigen, mit Ungewissheit und Unvorhersagbarkeit umzugehen, dann verlieren diese ihre Schrecken, und die Leute suchen weniger Zuflucht zu Dogmen.
am 9. September 2010 um 03:43 Uhr.
Guten morgen Paul,
Hier wird wieder einmal genau auf gezeigt das wir in einer Welt von Instabilitaet wandeln und das wir immer in Ungwissheit wandeln. Nur wenn wir uns selber mit der taeglichen Wandelung beschaeftigen und keine festen Leitsaetze verfolgen, sondern uns der Angst der Ungewissheit entledigen, werden wir erkennen das wir auch so leben koennen.
Professor Peter Kruse schreibt im Schlusswort von seinem Buch ” next practice Erfolgreiches Management von Instabilitaet:
Die Zeit der Vordenker ist ein fuer alle Mal vorbei. Ob in Kultur, Wirtschaft oder Politik – angesichts der Komplexitaet und Dynamik der von uns selbst erzeugten gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt es keine Patentrezepte mehr. Wir sind angewiesen auf die Bereitschaft aller, sich bei vollem Bewusstsein der Risiken immer wieder neu die Faszination gemeinsamer Lernprozesse einlassen”
D.O.
am 9. September 2010 um 05:19 Uhr.
Hallo Dieter,
ja, ich stimme Dir zu, dass es gar nicht so schwer ist, mit der Ungewissheit zu leben. Veränderung und Ungewissheit sind Fakten. Auf der anderen Seite ist aber auch das Bedürfnis nach Sicherheit und Gewissheit ein „Fact of Life“. Das Leben ist metastabil. Phasen und Aspekte von Stabilität, Mustern, Zusammenhängen und Instabilität, Dynamik durchdringen sich gegenseitig. Wir müssen Stabilität und Veränderung immer wieder neu ausbalancieren. Das ist Boyds „konzeptionelle Spirale“.
Um mit der konzeptionellen Spirale leben zu können und den Leuten im Umgang mit Ungewissheit zu helfen, müssen wir beide Seiten sehen.
Herzliche Grüße,
Paul
am 11. September 2010 um 07:36 Uhr.
Hallo,
ich lese das Blog unregelmässig, bin aber über jeden Artikel begeistert.
Die Schnittstelle zwischen der Bereitschaft zur Ungewissheit und deren Ablehnung ist wohl unser aller täglich Brot.
Ich sehe in der Dogmatisierung und damit Erstarrung von Systemen schon fast eine Notwendigkeit, einem Teil deren Lebenszyklusses. Diese abschliessende Phase wird unterstützt von einem bestimmten Charaktertyp, der eben nicht das vage sucht, sondern das etablierte, verlässliche, vermeintlich sichere. Sämtliche mir bekannten Verfahren zum Umgang mit Komplexität sind letztendlich Verfahren zum Umgang mit diesem Charaktertyp.
Roland
am 12. September 2010 um 10:43 Uhr.
Hallo Roland,
eine „Notwendigkeit“ kann ich in der Dogmatisierung, Erstarrung nicht erkennen, eher schon Bequemlichkeit, Suche nach einfachen Formeln und Gewissheit. Wir sollten das ganze eher als grundlegenden Konflikt im Leben begreifen ähnlich wie Efrats Wolke.
Ich stimme Dir zu, dass bestimmte Charaktertypen eher der einen oder der anderen Seite zuneigen. Geoffrey A. Moore zeigt uns in „Crossing the Chasm“, dass das auch eine Frage der Mehrheiten ist. In seiner Darstellung machen die „Innovatoren und Visionäre“ nur eine Minderheit von ca. 16% eines Marktes aus, die „Pragmatiker, Konservativen und Skeptiker“ stellen die große Mehrheit dar.
Viele Grüße,
Paul
am 28. February 2022 um 19:03 Uhr.
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