Demings Trichterexperiment

Paul.Bayer am 10. August 2009 um 13:14

Alle Prozesse unterliegen einer systembedingten, natürlichen Streuung. Um diese Streuung zu reduzieren, muss das System verändert werden. Wenn man ein System beeinflussen oder managen will, muss man unterscheiden, ob ein Ereignis im System auf die systembedingte Streuung zurückgeht, oder ob es eine besondere Ursache hat. Diese Unterscheidung ist essenziell.

W.E. Deming hat mit seinem Trichterexperiment gezeigt, was passiert, wenn man die natürlichen Ursachen der Streuung ignoriert und zufällige Ereignisse als besondere Ereignisse behandelt:

„Wir führen jetzt ein einfaches Experiment durch. … Stellen Sie sich einen Trichter vor, einen Halter, um den Trichter etwa einen halben Meter über den Tisch zu halten und ein Ziel auf dem Tisch.

Stellen Sie sich vor, dass wir eine Murmel durch den Trichter fallen lassen. Die Murmel wird durch den Trichter zufällig fallen, unabhängig davon wie wir sie fallen lassen. Die Murmel fällt dann aus dem Trichter und wir markieren mit einem Stift den Punkt auf dem Tisch, an dem sie auftrifft. Einfach!

Wir werden bestimmte Regeln befolgen, nach denen wir den Trichter über dem Ziel ausrichten. Diese Regeln entsprechen Entscheidungs­regeln, die wir befolgen, wenn wir Anlagen, Prozesse und Systeme betreiben.“ [1]

Regel 1: kein Nachstellen

Bei der Regel 1 richten wir den Trichter über dem Ziel aus und lassen ihn dann so während wir 50 Würfe durchführen. Entsprechend der natürlichen Streuung des Systems werden die Treffer zufällig verteilt um das Ziel liegen.

Das System ist nicht perfekt und in unserem Drang nach Perfektion entwickeln wir Regeln, um den Trichter „besser“ über dem Ziel auszurichten.

Regel 2: Nachstellen um den Betrag der Abweichung

Bei Regel 2 korrigieren wir die Position des Trichters um den negativen Betrag der letzten Abweichung vom Ziel. Lag der letzte Treffer um fünf Zentimeter oberhalb des Ziels, dann verschieben wir jetzt den Trichter um fünf Zentimeter von seiner letzten Position nach unten usw.

Der resultierende Prozess ist stabil, aber die Streuung hat sich vergrößert (um Faktor 1,41). Beispiele für Regel 2 sind Kalibrieren von Maschinen oder Waffen, mahnende Gespräche mit Kindern oder Mitarbeitern, wenn sie „unterdurch­schnittliche“ Leistungen zeigen, oder die meisten unmittelbaren Reaktionen auf Fehler, Unfälle, Beschwerden.

Regel 3: Nachstellen ausgehend vom Ursprung

Bei Regel 3 stellen wir den Trichter auf den Ursprung zurück bevor wir ihn korrigieren. War der letzte Treffer fünf Zentimeter oberhalb des Ziels, so stellen wir den Trichter jetzt fünf Zentimeter unterhalb des Ziels, genau gegenüberliegend.

Damit erhalten wir oszillierende, bogenförmige Muster, einen explodierenden Prozess, der sich immer weiter vom Ursprung entfernt. Viele Konflikte verlaufen so, Hochrüstung, Handelsschranken usw. Bekannt sind auch Bullwhip-effekte in Supply-Chains, die wir zuletzt in der Wirtschaftskrise anschaulich erleben konnten, „gegensteuern“, „eskalieren“, „hart durchgreifen“ usw..

Regel 4: Ziele auf den vorhergehenden Punkt

Regeln 2 und 3 haben uns nicht näher ans Ziel gebracht. Wir haben uns damit nur verschlechtert. Wir schließen daraus, dass es nichts bringt, den Trichter um Abweichungen zu korrigieren. Vielleicht ist es am besten, den Trichter über den Punkt zu stellen, den die Murmel trifft, um die Streuung so weit wie möglich zu reduzieren, auch wenn das nicht auf dem Ziel liegt. Lag unsere letzte Murmel fünf Zentimeter oberhalb des Ziels, dann stellen wir jetzt den Trichter exakt darüber.

Jetzt entfernt sich unser Prozess immer weiter vom Ziel, „in Richtung Milchstraße“ wie Deming sagte. Die häufigste Form von Regel 4 kennen wir aus der Unterweisung von Mitarbeitern. Neue Mitarbeiter werden unterwiesen und unterweisen dann ihrerseits neue Mitarbeiter. So entfernen sich die Praktiken immer weiter von ihrem Ursprung. Kein Wunder, wenn die Leute Fehler machen. Lernen aus Erfahrung ohne Theoriebildung und ohne kritisches Überprüfen der Erfahrungen nimmt ähnliche Entwicklungen. Ist das etwa der Grund für die Verbreitung schlechter Praktiken?

Schlussfolgerungen

Demings simples Trichterexperiment zeigt, dass falscher Umgang mit Variation und Überreaktion auf Abweichungen selbst ein Grund für Instabilität ist. Voraussetzung für Stabilisierung und Prozessverbesserung ist es deshalb, die Variation in den Prozessen und ihre Ursachen sichtbar zu machen und zu verstehen. Man kann das Trichterexperiment als einfaches Modell verwenden, um über gängige Praktiken nachzudenken.

PS 1: Nicholas Nassim Taleb hat in Narren des Zufalls auf unterhaltsame Weise gezeigt in welchem Umfang sich die Wirtschaftshandelnden vom Zufall narren und fehlleiten lassen.

PS 2: Die Grafiken wurden durch Computersimulation mit R erzeugt. Die R-Prozeduren finden sich hier.

[1]
in Latzko, Saunders: Four Days with Dr. Deming, A Strategy for Modern Methods of Management.– Addison Wesley 1995, S. 150

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