Was ist ein Engpass?
Paul.Bayer am 1. January 2010 um 18:14Ein Engpass ist eine Beschränkung (Constraint), die ein System davon abhält, sein Ziel zu erreichen. Diese Beschränkung kann z.B. eine knappe Ressource, die Systemstruktur, eine einschränkende Regel oder äußere Randbedingung sein. Eliyahu M. Goldratt schrieb 1990:
Der erste Schritt ist, anzuerkennen, dass jedes System für einen Zweck geschaffen wurde. Wir erschufen unsere Organisationen nicht nur, um zu existieren. Deshalb sollte jede Aktion durch ein Organ – irgendeinen Teil der Organisation – danach beurteilt werden, wie sie den Gesamtzweck beeinflusst. …
Wie unterscheiden wir das wenige Entscheidende von dem vielen Unbedeutenden? Der Schlüssel liegt im Anerkennen der wichtigen Rolle der Systemengpässe. Ein Systemengpass ist … alles, was ein System davon abhält, eine höhere Leistung in Bezug auf sein Ziel zu erreichen. … In unserer Realität hat jedes System sehr wenige Engpässe (…) und zur selben Zeit muss jedes reale System wenigstens einen Engpass haben. [1]
Die innere Einfachheit der Komplexität
Soziale und lebende Systeme zeigen oft komplexes Verhalten:
- Ursachen und Wirkungen sind nicht klar ersichtlich, nichtlinear oder treten erst mit zeitlicher Verzögerung auf, manchmal noch lange nachdem die Ursache verschwunden ist.
- Wirkungen sind auf die Ursachen rückgekoppelt und bewirken dynamisches Verhalten (dynamische Komplexität).
- Ursachen und Aktionen können mehrere, manchmal gegensätzliche Wirkungen haben, z.B. kurzfristig positive, langfristig negative.
- Trotzdem zeigen die Systeme charakteristische Verhaltensmuster.
Wir können solche Systeme nicht kontrollieren und feinsteuern. Wenn wir es versuchen, führen wir noch mehr Komplexität und unvorhersagbares Verhalten in das System ein („The System pushes back“).
Wir neigen intuitiv dazu, Komplexität zu reduzieren und die Situation zu vereinfachen. Das ist grundsätzlich richtig. Wir dürfen das aber nicht auf eine Art tun, die unser System weiter einschränkt oder seine Energien blockiert oder fehlsteuert. Die richtige Intervention in ein komplexes System besteht darin, seine Energien zu nutzen und ihm zu helfen, sein Systemziel zu erfüllen. Das ist das Anliegen des Engpassmanagements: durch das Entdecken der Engpässe legen wir die innere Einfachheit des Systems frei. Wir finden einen Weg, das System zu beeinflussen ohne negative Seiteneffekte.
Gegenüber der kürzlich behandelten Liste der Hebelpunkte (s. Grafik) von Dana Meadows stellt also das Engpassmanagement eine weitere Fokussierung dar: Wir setzen den Hebel an den Engpässen an, denjenigen Punkten, die das System behindern, sein Ziel zu erreichen. Dort sind Danas zwölf Arten zur Intervention von größtem Nutzen für das System.
Zu viele oder zu wenige Engpässe?
Zum Jahreswechsel 2009/2010 hat Dave Snowden, der Gründer von Cognitive Edge ein interessantes Interview gegeben. Er sagte zu Engpässen:
Wenn wir auf die Evolutionsbiologie zurückgreifen, dann gibt es ohne Engpässe keine Evolution. Wenn wir extreme Engpässe haben, gibt es ebenfalls keine Evolution. Exzessive Einschränkungen und keine Einschränkungen sind beide zerstörerisch.
Wir brauchen deshalb semi-eingeschränkte Systeme. … Das Amerika von Bush war eine uneingeschränkte Ökonomie, und wir wissen, welche Desaster das erzeugt hat. China ist eine zu stark eingeschränkte Ökonomie. Europa ist eher semi-eingeschränkt. [2]
Einschränkungen, Randbedingungen und Begrenzungen sind Teil unserer Realität. Engpassmanagement versucht mit dieser Realität richtig umzugehen. Wir fokussieren auf die Engpässe, versuchen sie auszunutzen und zu überwinden. Andere Randbedingungen und Einschränkungen sind Teil unseres Lebens, teilweise brauchen wir sie. Wir lieben es manchmal, über sie zu jammern, aber was hilfts?
In Wirklichkeit helfen uns Engpässe, unsere Nische zu finden, in der wir leben und überleben können. Dadurch, dass wir die Probleme und Engpässe anderer lösen können, nützen wir ihnen und bekommen dafür von ihnen etwas. Wenn wir unsere eigenen Engpässe oder die unserer Zielgruppe besser lösen können als andere, sind wir erfolgreich.
Gutes Design bedeutet, elegante Lösungen für Engpässe zu finden, entweder bestehende Engpässe besser auszunutzen als andere bestehende Lösungen oder sie zu überwinden. Deswegen beginnt Design damit, sich die Einschränkungen klarzumachen. Tim Brown von IDEO schreibt:
Das bereitwillige und sogar enthusiastische Aufgreifen zueinander im Wettbewerb stehender Constraints ist die Grundlage von Design Thinking. Bei der ersten Phase des Designprozesses geht es oft darum, zu entdecken, welche Einschränkungen wichtig sind und ein Gerüst für ihre Bewertung aufzustellen. Constraints kann man sich am besten als drei überlappende Kriterien für erfolgreiche Ideen vorstellen: Machbarkeit (…), Lebensfähigkeit (…) und Wünschbarkeit (…).
Ein kompetenter Designer wird alle diese drei Einschränkungen lösen, aber ein Design Thinker wird sie in eine harmonische Balance bringen. [3]
Taiichi Ohno hat das Toyota Produktionssystem unter enormen Einschränkungen entwickelt. Er hat dabei Engpass nach Engpass überwunden.
Arten von Engpässen
Dettmer und Schragenheim unterscheiden sieben grundlegende Typen von Engpässen:
- Markt: Nicht genügend Nachfrage für ein Produkt oder eine Dienstleistung.
- Ressource: Nicht genügend Leute, Ausrüstung oder Anlagen, um die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen zu erfüllen.
- Material: Unfähigkeit, erforderliches Material in der erforderlichen Menge oder Qualität zu beschaffen, um die Nachfrage nach Produkten oder Dienstleistungen zu erfüllen.
- Lieferant/Händler: Unzuverlässigkeit (Unregelmäßigkeit) eines Lieferanten oder Händlers oder zu hohe Lieferzeit für Aufträge.
- Finanzen: Nicht ausreichende liquide Mittel, um ein Geschäft zu versorgen. …
- Wissen/Kompetenz: Die Information oder das Wissen zur Verbesserung der Geschäftsleistung ist im System nicht vorhanden. Die Leute haben nicht die nötigen Fachkenntnisse für Leistung auf einem wettbewerbsfähigem Niveau.
- Strategie: Gesetze, Regelungen, Regeln oder Geschäftspraktiken, die den Fortschritt in Richtung des Systemziels behindern. [4]
Die meisten dieser Engpässe können schließlich auf tiefere Ursachen in den Annahmen, Denkmustern und Paradigmen zurückgeführt werden. Das macht das Constraints Management zunächst schwierig: es ist nicht einfach ein weiteres Werkzeug, das angewandt werden kann, sondern es fordert letztlich, unsere eigenen Denkmuster und Paradigmen in Frage zu stellen und zu überwinden – natürlich nur soweit sie uns beschränken.