Komplexität und Einfachheit
Paul.Bayer am 1. July 2011 um 19:28Kann man Komplexität definieren? Daran haben sich so manche versucht. Und herausgekommen sind dabei nur Umschreibungen [1]. Aber „die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ [2]. Es gibt zwei Gebrauchsweisen für „Komplexität“, die wir besser trennen:
- Wir bezeichnen etwas als komplex, wenn wir es nicht verstehen oder nicht erklären können [3].
- Wir bezeichnen Systeme mit gewissen Charakteristiken als komplex.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen beiden Gebrauchsweisen. Systeme
- aus vielen Komponenten
- mit vielen, teils nichtlinearen Abhängigkeiten und
- Rückkopplungen
zeigen ein schwer verständliches, „komplex“ erscheinendes Verhalten, das wir nicht vorhersagen oder beeinflussen können. Sobald wir das können, verliert das System seine Schrecken und es ist nicht mehr nötig, die Komplexität des Systems hervorzuheben.
Der Umgang mit Komplexität
Ein pragmatisches Verständnis von Komplexität baut daher auf der ersten Gebrauchsweise auf: ein komplexes System (eine Situation) erscheinen uns als schwer verständlich, ungewiss, kaum vorhersagbar. Wir wollen aber einen Weg finden, wie wir damit umgehen können! Wir müssen es gar nicht in allen Einzelheiten verstehen sondern wollen nur einen praktischen Weg finden, damit klar zu kommen oder es zu beeinflussen.
Als Menschen gehen wir häufig mit komplexen Situationen, Lebewesen, Organisationen … um. Das ist Teil unseres Lebens. Der Umgang mit Komplexität folgt einem bestimmten Muster:
- Aspekte eines Systems oder einer Situation sind unserem Verständnis verschlossen und komplex. Wollen wir damit zurechtkommen, müssen wir damit herumexperimentieren, Ansatzpunkte und Muster finden usw..
- Wir finden z.B. durch Experimente Parameter heraus, wie wir das System beeinflussen können, z.B. ein Optimum, einen Operationsbereich, ein Modell, die Abhängigkeiten. Wir können vielleicht Regeln herausfinden. Das ist kompliziert, benötigt häufig Experten usw.
- Einige Dinge wissen und lernen wir so über das System. Wenn wir einen Hebelpunkt oder Engpass finden, über den wir das System, sein Verhalten, seine Funktionsweise beeinflussen können, wird es einfach.
- Durch mehr Einsicht in ein System finden wir immer einfachere und damit wirksamere Möglichkeiten, es zu erklären oder zu beeinflussen. Wir dürfen unsere Erklärungen und Aktionen aber nicht zu stark vereinfachen oder übertreiben. Sonst überstrapazieren wir ein System und provozieren chaotische Verhältnisse. Wir stoßen mit unseren vereinfachten Erklärungen und Ansätzen immer wieder an gewisse Grenzen.
Dieser Prozess kann als Dynamik im Cynefin-Modell dargestellt werden [4]:
Unser Erkenntnisprozess durchläuft die Cynefin-Domänen im Uhrzeigersinn.
Die innere Einfachheit von Komplexität
Im pragmatischen Verständnis sind Komplexität und Einfachheit kein Widerspruch, im Gegenteil: je komplexer ein System, ein Problem ist, desto einfacher muss die Lösung sein, wenn wir es auf wirksame Weise beeinflussen wollen [5]. Das Postulat der Naturwissenschaften und der Theory of Constraints ist, dass komplexe Systeme innere Einfachheit haben. Ihnen liegen letztlich wenige einfache Gesetzmäßigkeiten zugrunde. Sie können daher auf einfache Weise beeinflusst werden. Nur sind diese Gesetzmäßigkeiten und Ansatzpunkte nicht offensichtlich. „Einfach“ bedeutet nicht „leicht“ und erfordert harte Arbeit. Das Gewirr der Abhängigkeiten ist schwer aufzulösen.
In der Realität sind komplexe Systeme durch ihre starken Abhängigkeiten gekennzeichnet. Die Theory of Constraints schlägt als wirksamsten Weg vor, dass wir uns jeweils nur auf diejenigen von ihnen fokussieren, die das System von der Zielerreichung abhalten, auf den Systemconstraint, den Engpass. Je weniger wir intervenieren müssen, um ein Ziel zu erreichen, umso wirksamer werden wir.
Ungewissheit und Stabilität
Manche Zeitgenossen versuchen komplexe Systeme zu steuern wie (einfache oder komplizierte) Maschinen.
Aber der Versuch, alle Wechselwirkungen in einem komplexen System zu kontrollieren, ist Unfug. Selbst wenn wir es auf einfache Weise beeinflussen können, seine Eigenarten: Abhängigkeiten, Rückkopplungen, Nichtlinearitäten … bleiben erhalten und machen sich in Fluktuationen und unvorhergesehenen Reaktionen bemerkbar. Wir können es nicht vollständig kontrollieren (in die komplizierte oder einfache Domäne bewegen). Jeder derartige Versuch, es überzubestimmen oder zu „reduzieren“ wird es zerstören (in die chaotische Domäne bewegen). Wir können also nur wenige entscheidende Punkte kontrollieren und dürfen nicht mehr tun als nötig.
Wir müssen der Komplexität, der Selbstorganisation, den Entwicklungs-, Lern- und Anpassungsprozessen Raum geben, dafür Puffer und Spielräume vorsehen. Dafür brauchen wir geeignete ökonomische Methoden, um die nötige Größe dieser Spielräume zu ermitteln, und Mechanismen, um das System in diesem Operationsbereich zu halten [6]. Solange uns das gelingt, ist das System stabil, sein Verhalten innerhalb gewisser Grenzen vorhersagbar und kann „gemanagt“ werden. In diesem Sinne sagte Deming: „Management is prediction!“