Die rote Königin

Paul.Bayer am 4. December 2010 um 20:39

In „Alice hinter den Spiegeln“ von Lewis Carroll begegnet Alice der roten Königin:

Wenn sie später darüber nachdachte, kam Alice nie dahinter, wie alles angefangen hatte: alles woran sie sich erinnern konnte war, dass sie Hand in Hand rannten und dass die Königin so schnell lief, dass sie alles geben musste, um mitzuhalten. Und trotzdem schrie die Königin ständig: „Schneller! Schneller!” Aber Alice hatte das Gefühl, dass sie nicht mehr schneller rennen konnte, bekam aber nicht genügend Luft, um es zu sagen.

Das seltsamste dabei war, dass die Bäume und die anderen Dinge in der Umgebung nie ihre Position änderten: wie schnell sie sich auch immer bewegten, sie schienen nie irgend etwas überholen zu können. „Ich frage mich, ob sich alle Dinge mit uns bewegen“, dachte die verwirrte Alice. Und die Königin schien ihre Gedanken zu erraten, da sie schrie: „Schneller! Versuche nicht, zu reden!“

… hier, [sagte die Königin] siehst du, musst du so schnell rennen wie du kannst, um auf derselben Stelle zu bleiben. Wenn du woanders hin willst, musst du zweimal so schnell rennen!“ [1]

Der Red-Queen-Effekt

Der Evolutionsbiologe Leigh van Valen hat 1973 Lewis Carrolls Figur der roten Königin aufgegriffen, um seine Beobachtungen zum Überleben von Spezies zu beschreiben:

In einem evolutionären System ist ständige Entwicklung erforderlich, damit es seine Fitness relativ zu den Systemen halten kann, mit denen zusammen es sich entwickelt. [2]

Nicht die Umweltbedingungen setzen den Red-Queen-Effekt in Gang, sondern die Lebenskraft und der Überlebensdrang der Spezies selbst. Die Antilope muss schneller laufen lernen, um nicht vom Löwen erbeutet zu werden. Schnellere Antilopen erfordern die Entwicklung schnellerer Löwen usw. Die rote Königin und die anderen Lebewesen spornen sich beim Rennen also gegenseitig an. Jeder muss rennen, um nicht hinter den anderen zurückzufallen.

Die rote Königin benötigt keine Veränderungen der physischen Umgebung, auch wenn sie damit umgehen kann. Biotische Kräfte bilden die Basis für eine – auf dieser Ebene – selbsttätige ständige Bewegung der vorhandenen Umwelt und damit der Spezies, die von ihr beeinflusst werden. [3]

Das ist wie beim Wettrüsten. Der evolutionäre Wettlauf ist sehr übertragbar auf Organisationen und die Menschen und Gruppen in ihnen oder auf Unter­nehmen im Markt.

Koevolution kann auch in unseren ökonomischen und kulturellen Systemen beobachtet werden. Eine Ökonomie ist, wie ein Ökosystem ein Netzwerk von sich zusammen entwickelnden Akteuren. Der Mutualismus der Biosphäre findet sein Echo im weitläufigen Netzwerk der Güter und Dienstleistungen, die alle in ihrer ökonomi­schen Nische „leben“. [4]

Der Unterschied ist freilich, dass in sozialen Gebilden soziale Kräfte wirken, bei denen es zunächst nicht so sehr um das physische Überleben geht: Ein Wettrüsten kann durch Vernunft beendet werden.

Constraints und Kanalisierung

Der evolutionäre Wettlauf wird angestachelt durch den Anspruch unterschiedlicher Spezies, Gruppen oder Lebewesen auf dieselben beschränkten Ressourcen wie Lebensraum, Rohstoffe, Nahrungsmittel, Kunden, Mitarbeiter, Geldmittel, Aufmerk­samkeit, Zeit … Je begrenzter die Ressourcen, je ähnlicher die Mittel, mit denen die Beteiligten auf diese Ressourcen zugreifen wollen, umso härter das Rennen. Die langsamsten scheiden unerbittlich aus. Um zu überleben, müssen sie ihren Wettbewerbern voraus sein oder besondere Fähigkeiten ausbilden, eine neue Nische finden, in die sie sich hinein entwickeln können und in der der Wettbewerb nicht so hart ist.

Das evolutionäre Rennen führt also sowohl zur Selektion, zum Ausscheiden der leistungsschwächeren als auch zur Spezialisierung der Spezies. Das Rennen entwickelt sich entlang der vorhandenen Constraints. Die Spezies spezialisieren sich in die Nischen. Die Constraints bilden Kanäle für Entwicklung. Allerdings werden wie in einem Canyon-System die Kanäle immer enger, damit das Wettrennen immer intensiver.

Das Problem der roten Königin

Je mehr die rote Königin mit dem Rennen beschäftigt ist, umso weniger Zeit hat sie, sich umzusehen und einen Ausweg aus ihrer Situation zu finden. Sie riskiert, von neuen Mitspielern ausmanövriert zu werden, die die Regeln ändern und neue Wege finden, um an andere Orte zu wechseln. Die rote Königin ist dem Untergang geweiht, und zwar umso mehr, je intensiver sie rennt. Sie befindet sich am Ende ihrer Entwicklung [5]. Am Anfang hatte sie einen guten Vorsprung. Aber jetzt muss sie immer intensiver rennen, um nicht überholt zu werden. Je mehr Angst sie hat, eingeholt zu werden, je intensiver sie rennt, umso weniger kann sie gewinnen [6]. Wie lange sie überleben kann ist am Ende eine Frage des Zufalls, eine Folge kleiner, marginaler Vorteile, die sie sich im Rennen eventuell gegenüber ihren bekannten Wettbe­werbern herausarbeiten kann. Sie müsste einen anderen Weg finden, hat aber keine Zeit dazu.

„Ihre Strategie ist falsch“, schrieb Wolfgang Mewes, der Schöpfer der engpass­konzentrierten Strategie (EKS) in den siebziger Jahren in großen FAZ-Anzeigen. Spätestens wenn man merkt, dass man an eine Grenze stößt, sollte man seine Strategie überprüfen, an der Überwindung der Beschränkung arbeiten und nicht versuchen, der Grenze immer näher und näher zu kommen, um sich irgend einen marginalen Vorteil zu erarbeiten. Verbesserung besteht aus zwei Seiten: inkre­mentelle Verbesserungen und Durchbrüche, Kaizen und Kaikaku. Nur durch Durchbrüche, durch Paradigmenwechsel oder disruptive Innovation [7] kann man aus dem Rennen ausbrechen und sich einen entschei­denden Wettbewerbs­vorsprung erarbeiten.

Tatsächlich gibt es viele Rote-Königin-Rennen, bei denen versucht wird, mit bestehenden Mitteln, Paradigmen und Ressourcen besser und besser zu werden. Diese Rennen führen nur dazu, dass man sich immer mehr abstrampelt und nicht vorwärts kommt. Wie geht es Ihnen, in welchen solcher Rennen stecken Sie? Ist es vielleicht Zeit, Ihre Strategie zu überprüfen?

[1]
Lewis Carroll: Through the Looking Glass; Kapitel 2
[2]
Francis Heylighen (2000): The Red Queen Principle, in: Principia Cybernetica Web
[3]
Bob O’Hara: The Original Red Queen’s Hypothesis, in: Deep Thoughts and Silliness, 30.11.2010
[4]
Stuart A. Kauffman: Technology and Evolution: Escaping the Red Queen Effect, in: McKinsey Quarterly, Februar 1995
[5]
Die Entwicklung von Systemen kann in Form von S-Kurven beschrieben werden. Am Ende seines Entwicklungszyklus wird der Aufwand immer höher, um das System am Leben zu halten. vgl. dazu Systemevolution und Verbesserung
[6]
Menschen in Red-Queen-Rennen haben ständig das Gefühl, angegriffen zu werden, und „gegen Alligatoren zu kämpfen“. Vgl. dazu den Beitrag „Die vier Seiten des Wandels.“
[7]
Paradigmenwechsel wie etwa Anwendung von Constraints Management sind in bestehenden Red-Queen-Organisationen schwieriger umzusetzen aber beinhalten geringere Risiken als disruptive neue Produkte.

Ähnliche Beiträge: