Der Baumkletterer

Paul.Bayer am 15. September 2010 um 20:22

Yoshida Kenkô erzählte uns im Tsuretsuregusa folgende Geschichte:

Einer, der als Baumkletterer großen Ruf genoß, war, wenn er einen anderen in der Kunst unterwies, auf hohe Bäume zu steigen und dort Zweige abzuschneiden, immer ganz still, sobald der da oben sich in einer gefährlich aussehenden Lage befand. Kletterte jener aber herab und war bis zur Dachhöhe angelangt, so rief er ihm zu: »Tu keinen Fehlgriff! Gib acht!« – Als ihn jemand fragte: »Warum ruft Ihr jetzt, da der andere doch schon ungefährdet herunterspringen kann?«, antwortete er: »Es geschieht aus folgendem Grunde: In schwindelnder Höhe hat der oben von selbst genügend Angst, und ich brauche ihn nicht zu warnen. Die Fehlgriffe aber werden immer dann getan, wenn einer glaubt an ›sichere‹ Stellen gelangt zu sein.«

Dies war nur ein einfacher Mann, aber seine Worte entsprachen ganz dem, was die Heiligen lehren. In schwierigen Situationen trifft man beim Spiel den Ball gut, aber wenn man beruhigt glaubt, nun sei es kinderleicht, fällt er sicherlich zu Boden. [1]

In Verbesserungsinitiativen ist die schwierigste Situation dann, wenn die ersten Erfolge eingetreten sind. Anfangs ist es gelungen, einen gemeinsamen Fokus aufzubauen. Aber wenn die ersten Erfolge eingetreten sind, glauben viele, dass man sich jetzt im »sicheren« Hafen oder im ruhigen Fahrwasser befindet. Schon lassen Interesse und Fokus nach. An dieser Stelle werden Vorsichtsmaßnahmen vergessen. Die Initiative, das Projekt kippt.

Jetzt ist es nötig, die Erfolge zu stabilisieren, die nächsten Ziele anzugehen und in die nächste Phase einzutreten. Aber alle wollen gerade jetzt wieder entspannen. Es ist schwer, die Leute davon zu überzeugen, die Aufmerksamkeit beizubehalten.

Das ist der wichtigste Grund dafür, dass es heißt: »Nach dem Kaizen ist die Situation schlimmer als vor dem Kaizen.«

[1]
Yoshida Kenkô: Beobachtungen aus der Stille; Insel, 2003, S. 71. Das Tsuretsuregusa ist in Japan vor 1350 n. Chr. entstanden.

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