Quæstiones: Newton und Goldratt

Paul.Bayer am 31. May 2013 um 08:04

Jetzt sind es nur noch wenige Tage zur internationalen TOCICO Konferenz 2013 in Bad Nauheim. Natürlich erinnern sich die TOC-Anwender bei dieser Gelegenheit an Eli Goldratt, den Erfinder der Theory of Constraints, der vor fast zwei Jahren gestorben ist [1]. Eli war Physiker und er hat oft Isaac Newton als eines seiner Vorbilder zitiert. Nicht zuletzt durch Eli inspiriert lese ich jetzt Richard Westfalls Biographie von Newton [2]. Ich bin stark beeindruckt und verstehe die Faszination, die Newton auf Goldratt ausgeübt hat, nun besser.

Quæstiones quædam Philosophiæ

Über Isaac Newton gibt es einige populäre Mythen. Darunter ist der berühmte Apfel, aber auch „annus mirabilis“ das wunder­bare Jahr 1666, in dem er als junger Mann seine genialen Einfälle hatte.

Westfall schildert dagegen, dass der 22-jährige Newton 1664 in seinem Notizbuch 45 „Quæstiones quædam Philosophiæ“, also Fragen zur Philosophie, zu einem breiten Bereich von Themen aufstellte: elementare Materie, Atome, Vereinigung von Körpern, Bewegung, Himmelsmaterie und Orbits … Licht, Empfindung, Farben, Töne, Erinnerung, Vorstellung … bis hin zu Gott, Schöpfung, Seele, Schlaf und Träumen [3]. Unzufrieden mit den klassi­schen Antworten auf diese Fragen machte er sich daran, sie selbst zu beantworten.

Der Titel „Quæstiones“ beschreibt das Ganze angemessen mit einem Ton des ständigen Hinterfragens. … Newton hatte die Welt des Aristoteles für immer verlassen.

Ein Produkt seiner neuen Weltsicht war ein zeitweises Interesse an ständiger Bewegung. Die mechanische Philosophie zeichnete eine Welt in ständigem Fluss. …

In einem bemerkenswerten Ausmaß deuten die „Quæstiones“ die Probleme an, auf die sich seine wissenschaftliche Karriere fokussieren und die Methode, mit der er sie angehen würde. [4]

Gleichzeitig war die Naturphilosophie nicht das einzige neue Studiengebiet, das Newton entdeckte. Er fand auch die Mathematik. …

Beide Berichte [der von Conduitt und der von DeMoivre] stimmen darin überein, Newton als Autodidakten in Mathematik ebenso wie in Natur­philosophie zu bezeichnen. …

In etwa einem Jahr, ohne den Vorteil eines Unterrichts beherrschte er die gesamte Leistung der Analysis des 17-ten Jahrhunderts und begann, neue Wege zu beschreiten. [5]

Newton war kein Mann halbherzigen Strebens. Wenn er über etwas nachdachte, dann dachte er kontinuierlich darüber nach. Indem er eineinhalb Jahre kontinuierlich über Mathematik nachdachte, kam er zu einer neuen Methode, die ursprünglichen Probleme der früheren Mathematiker zu lösen, mit denen er angefangen hatte. Jetzt konnten andere Interessen aus den „Quæstiones“ seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wenn sie sie einmal angezogen hatten, dann dachte er so intensiv darüber nach wie vorher über die Mathematik. [6]

Wenn wir seinen Aufzeichnungen folgen, dann bemerken wir, was es für eine harte Arbeit war, die Diktate der Alltagsvorstellungen einer zweitausendjährigen Tradition abzulegen. [7]

Bei näherer Betrachtung entpuppen sich die anni mirabiles als weniger wunderbar als das annus mirabilis des newtonschen Mythos. Als 1666 zu Ende ging hatte Newton nicht die Ergebnisse, die seinen Ruhm unsterblich machten, weder in der Mathematik noch in der Mechanik, noch in der Optik. Was er in allen dreien getan hatte, war Grundlagen zu legen – einige umfangreicher als andere –, auf denen er mit Sicherheit aufbauen konnte. Aber nichts war Ende 1666 fertig und das meiste nicht einmal annähernd fertig. Weit entfernt davon, Newtons Größe zu vermindern, wird sie durch diese Beurteilung vergrößert indem seine Errungenschaft als ein menschliches Drama von Plage und Mühe statt als eine Geschichte von göttlicher Eingabe behandelt wird. „Ich halte die Sache ständig im Blick“, sagte er „und warte bis die ersten Lichtblicke sich langsam Stück für Stück in ein volles und klares Licht öffnen”. 1666, nachdem er die Dinge ständig im Auge behielt, sah er langsam die ersten Lichtblicke. Jahre ständigen Nachdenkens darüber mussten noch vergehen bis er das volle und klare Licht sehen konnte.

Nach jedem anderen Maßstab als dem des newtonschen Mythos war die Leistung der anni mirabiles erstaunlich. 1660 erblasste ein Provinzjunge vor Neid vor der Welt des Lernens, die ihm offensichtlich verweigert wurde. Mit Glück breitete sie sich vor ihm aus. Sechs Jahre später, ohne Hilfe von außerhalb der Bücher, die er selbst gefunden hatte, hatte er sich zum führenden Mathematiker in Europa und ebenso zum führenden Naturphilosophen entwickelt. [8]

Drei Jahrhunderte danach

Drei Jahrhunderte nach Newton sind wir weiter gekommen. Die newtonsche Mathematik und Physik wurde entwickelt und auf sehr großen und sehr kleinen Skalen durch Relativitätstheorie und Quantenphysik ersetzt und ergänzt. Die Arbeiten Newtons zur Alchemie und zur Religion sind vergessen. Aber keineswegs alle von Newtons „Quæstiones” sind beantwortet. Für einen neugierigen Zeit­genossen oder Naturwissenschaftler stellen sich heute darüber hinaus neue Fragen, an denen er mit moderneren Möglichkeiten: Theorien, Instrumenten, Computern, Simulationen … arbeiten kann.

Die ganze moderne Technologie hilft aber immer noch wenig, wenn es uns – wie für Newton – um das Überwinden der Diktate von Vorurteilen und langjährigen falschen, unhinter­fragten Annahmen geht.

Eli Goldratt und seine Theory of Constraints

Ist es nicht bezeichnend, dass sowohl Deming als auch Goldratt Physiker gewesen sind, die die Praktiken und Prozesse in Unternehmen mit anderen Augen sahen, dadurch andere Fragen stellten und eine Veränderung bewir­ken konnten?

Eli Goldratt vertrat die Auffassung, dass a) die gängige Lehre im Management die Realität nur unzu­reichend erklärt und zu falschen Schlussfolgerungen führt, er daher b) eine Reihe grund­legender Fragen stellen musste, die er c) durch intensive Untersuchung klären könnte. Durch seinen frühen Tod konnte Eli Goldratt seine Arbeit nicht soweit bringen, wie er das wollte.

Was waren also Goldratts „Quæstiones“, seine Fragen, auf die er mit der Theory of Constraints neue Antworten gab?

  1. Was bestimmt den Durchsatz eines Unternehmens?
  2. Was ist das Ziel eines Unternehmens?
  3. Was sind die notwendigen Existenzbedingungen für ein Unternehmen?
  4. Wie steuert und synchronisiert man ein Unternehmen?
  5. Was hindert uns daran, unsere Potenziale auszuschöpfen?
  6. Warum und worauf müssen wir uns fokussieren?
  7. Wie lösen wir einen Konflikt?
  8. Wie gehen wir mit Variation um?
  9. Was ist Strategie und wie entwickeln wir sie?
  10. Wie bewirken wir Veränderung?
  11. Wie erreichen wir eine deutliche Verbesserung?

Einige der Antworten, die uns Eli mit der TOC gab, sind ausgereift, einige haben sich über verschiedene Stadien entwickelt, andere sind erste Skizzen. Ich erwarte, dass wir auf der bevorstehenden TOCICO-Konferenz mit unseren Antworten weiter kommen.

Nach Eli Goldratt

Natürlich gab es nicht nur Parallelen sondern auch große Unterschiede zwischen Goldratt und Newton. Einer davon war, dass Eli mit seinen Einsichten offener umging, sie weitergab und zur Diskussion stellte. Sein Vermächtnis bestand in der Aufforderung, seine Einsichten weiterzuentwickeln, sie zu hinterfragen und darüber hinauszugehen. [9]

Also sind wir wieder bei neuen „Quæstiones“:

  1. Was ist ein Constraint?
  2. Wie schaut eine strengere Formulierung von Flussystemen aus? Z.B. auf Basis von Stock-Flow Diagrammen oder Differentialgleichungen.
  3. Welche Charakteristiken haben solche Systeme?
  4. Stabilität und Entwicklung
  5. Welche Möglichkeiten liegen im Überwinden von Constraints?
  6. Systematische Fehler (z.B. Bestätigungsfehler) im TOC Denkprozess?

Nachdem er 1942 Newtons alchemische Notizbücher gekauft und studiert hatte bemerkte der Ökonom John Maynard Keynes, dass Newton „nicht der erste des Zeitalters der Vernunft sondern vielmehr der letzte Magier war” [10]. Nun, Eli Goldratt hatte manchmal auch etwas von einem Magier, und vielleicht erklärt das einen kleinen Teil der Faszination, die Newton auf ihn ausübte. Vielleicht gehört ja eine spirituelle Seite zu kreativen Genies.

Auf jeden Fall denke ich, dass die Vitalität der TOC-Gemeinde nach Eli Goldratt von drei Fragestellungen abhängt:

  1. Wieweit sind die TOC Anwender bereit und offen dafür, mehr naturwissen­schaftliche Strenge (z.B. Experimente, Simulationen, mathematische und statistische Betrachtung …) in die TOC hineinzubringen?
  2. Wieweit sind sie bereit, an Elis Fragen weiterzuarbeiten?
  3. Wieweit stellen sie neue und weitergehende „Quæstiones“, Fragen, die über die von Eli Goldratt hinausgehen?

Ich hoffe, zwei Jahre nach der TOCICO Konferenz 2011 in Palisades, wenige Tage nach Elis Tod, dass ich in wenigen Tagen in Bad Nauheim diese Fragen positiv beantworten kann.

[1]
[2]
Richard S. Westfall: Never at Rest, A Biography of Isaac Newton.– Cambridge University Press 1980
[3]
Newtons „Quæstiones” sind beim Newton Project veröffentlicht.
[4]
Westfall, S. 90f
[5]
Westfall, S. 98ff, die Naturphilosophie ging den Naturwissenschaften voraus
[6]
Westfall, S. 144, die neue Methode war die Differentialrechnung
[7]
Westfall, S. 169, gemeint ist hier die aristotelische Tradition
[8]
Westfall, S. 174
[9]
[10]

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