Das Diagramm des Lebens

Paul.Bayer am 5. May 2010 um 05:23

Eine der am schwersten verdaulichen Skizzen von W. Edwards Deming ist das „Diagramm des Lebens“ [1]. Es zeigt wohl mit am besten, worum es ihm ging:

Das Diagramm des Lebens von W. Edwards Deming

Das Diagramm zeigt, wie ein Mensch mit intrinsischer Motivation, Lebensfreude und Selbstwertgefühl und Neugier geboren wird und wie ihm durch die Zerstö­rungskräfte unserer Gesellschaft und unseres Managements diese positiven Eigen­schaften allmählich abhanden kommen. Die Zerstörungskräfte sind:

  • Durch Benotung werden wir als Kinder früh unter Leistungsdruck gesetzt.
  • Wir gewöhnen uns daran, Belohnung zu erwarten, andere Leute zu beur­teilen und selbst beurteilt zu werden, den gesellschaftlichen Schemata zu genügen, um die besten Plätze mit anderen zu konkurrieren.
  • Durch Lohnanreize und Leistungsentgelte wird unsere Arbeit und Leistung ausdrücklich an äußere (extrinsische) Anreize gebunden. Wir leisten und arbeiten, damit für uns persönlich etwas dabei „rausspringt“.
  • Numerische Zielvorgaben ohne Ressourcen oder Methode mit denen diese Ziele erreicht werden können sind die nächste Stufe dieses Systems, das uns ständig unter Anspannung setzt und dazu bringt, diese Ziele mit allen Tricks zu erreichen.
  • Statistische Schwankungen zwischen Leuten, Gruppen oder Schwankungen in der Zeit werden auf Leistungsunterschiede, individuelle Fehler, Versagen, besondere Leistungen etc. zurückgeführt.
  • Jede Gruppe oder Abteilung geführt als Profit- oder Kostenzentrum unterstützt lokale Optimierung, zementiert organisatorische Barrieren und versperrt uns den Blick für das Ganze.

Das Ganze führt zu einer Verzerrung der Individuen hin zu einem bestimmten sozialen Verhalten, das ihre Potenziale unterdrückt und auch der Organisation und der Gesellschaft nicht besonders zuträglich ist. Das System dient dem Erhalt und Ausbau sozialer Kontrolle.

Organisatorische Constraints

Demings Schema zeigt wie subtil und systematisch die sozialen und organisato­rischen Constraints auf die Leute wirken und ihr Verhalten und ihre Entwicklung in eine bestimmte Richtung lenken. Das Ganze ist ein Kraftfeld und Konflikt zwischen der inneren Lebenskraft der Menschen und den äußeren Zwängen, unter denen sie stehen und denen sie sich unterwerfen.

Sie erdrücken in einem Individuum über seine Lebensdauer seine angeborene Motivation, sein Selbstwertgefühl, seine Würde und versetzen es in Angst, Abwehrhaltung, extrinsische Motivation [2].

Derselbe Mechanismus stellt den Organisationen und der Gesellschaft aber auch ein riesiges Reservoir an ungenutzten Potenzialen ihrer Mitarbeiter und Mitglieder zur Verfügung, das sie nutzen können, um ihre gemeinsamen Zwecke besser zu erfüllen bei gleichzeitigen Entwicklungsmöglichkeiten für die Individuen:

Die Kräfte von oben berauben die Leute und die Nation der Innovation und angewandten Wissenschaft. Wir müssen diese Kräfte durch ein Management ersetzen, das die Power des Individuums wiederherstellt.

Der Wandel wird die Kraft der menschlichen Ressourcen und ihrer intrinsischen Motivation freisetzen. Statt Wettbewerb um hohe Einstu­fung, Rangstufe oder um die Nummer Eins wird es Zusammenarbeit an gemeinsamen Problemen zwischen Leuten, Abteilungen, Firmen, Wettbewerbern, Regierungen, Ländern geben. Das Ergebnis wird mit der Zeit größere Innovation, mehr angewandte Wissenschaft, Techno­logie, Marktexpansion, besserer Service, größere materielle Vergütung für jeden sein. Es wird Freude an der Arbeit und Freude am Lernen geben. Es ist ein Vergnügen mit Leuten zu arbeiten, die Freude an ihrer Arbeit haben. Jeder wird dabei gewinnen. Es gibt keine Verlierer [3].

Die Transformation … wird Jahr für Jahr die untere Hälfte des Diagramms aufbauen und die obere Hälfte schrumpfen. [4]

[1]
Das „Diagramm des Lebens“ hat Deming erst in seinen letzten Lebensjahren entwickelt. Die erste Fassung erscheint in Henry R. Neave: The Deming Dimension.– SPC Press, 1990, S. 389. Die hier gezeigte Fassung ist aus W. Edwards Deming: The New Economics, 2nd Ed.; MIT, 1994, S. 122
[2]
aus Henry R. Neave, s.o. S. 388
[3]
W. Edwards Deming, The New Economics s.o. S. 122 f
[4]
ibid S. 121

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