Das System des profunden Wissens

Paul.Bayer am 29. December 2012 um 18:39

W. Edwards Deming hat in seinen Vorträgen und Büchern von einem „System des profunden Wissens“ gesprochen, das zu einer Veränderung des gegenwärtigen Managements erforderlich sei.

„Der vorherrschende Management­stil muss einem Wandel unterzogen werden. Ein System kann sich nicht selbst verstehen. Die Veränderung erfordert eine Sicht von außen. … ein System des profunden Wissens … Es stellt eine Skizze einer Theorie bereit, mit der man die Organisa­tionen verstehen kann, in denen wir arbeiten.“ [1, 2]

Er skizzierte dann im weiteren die Elemente dieses „System of profound knowledge“:

Die Außensicht: Der Aufbau des profunden Wissens erscheint hier in vier Teilen, alle zueinander in Beziehung stehend:

  • Systemverständnis
  • Wissen über Variation
  • Theorie des Wissens
  • Psychologie

… Die verschiedenen Elemente des Systems des profunden Wissens können nicht getrennt werden. Sie wirken zusammen. So ist Wissen über Psychologie ohne Wissen über Variation unvollständig. Ein Manager von Leuten muss verstehen, dass alle Leute unterschiedlich sind. … Etwas Verstehen von Variation einschließlich Verständnis für ein stabiles System und etwas Verstehen von speziellen und gewöhnlichen Ursachen von Variation sind wesentlich für das Management eines Systems, einschließlich des Managements von Leuten.“ [3]

Demings Vorschlag ist, dass dieses „profunde Wissen“ zum besseren Verständnis, zum Wandel und zur Verbesserung unserer Organisationen verhelfen kann. Damit ist dieser Vorschlag sicherlich der grundlegendste und weitreichendste der ganzen Demingphilosophie. Leider erscheint er als schwer zugänglich.

Eine Annäherung

Das profunde Wissen erscheint für Manager vor allem deswegen so schwer zugänglich, weil es – wie Deming angemerkt hat – eine Außensicht darstellt. Wie können wir also eine Außensicht einnehmen auf das, was wir tun?

Es stellt sich heraus, dass das gar nicht so schwierig ist, eine hochinteressante Entdeckungsreise wird und jede Menge Spaß und praktischen Nutzen bereiten kann. Ich möchte hier die Leser von Wandelweb auf diese Entdeckungsreise einladen und ihnen einige Bücher (alle auch als Hörbücher) vorschlagen, die ihnen den Zugang zum Fluss des profunden Wissens öffnen können.

Systemverständnis

„Ein System ist eine regelhafte Anordnung von Komponenten, die miteinander in Wechselwirkung (Interaktion) stehen und dadurch diesem System besondere Eigenschaften verleihen.“ [4]

Ein Systemverständnis baut heute vor allem auf den Erkenntnissen der modernen Biologie auf und beschäftigt sich mit lebendigen Systemen, die aus vielen Agenten (Zellen, Organen, Organismen, Populationen, Spezies …) bestehen, die eine Geschichte, emergente Eigenschaften und Fähigkeiten zur Anpassung, Entwick­lung, Vererbung und Selektion besitzen … Es hat wichtige Auswirkungen auf die Art, wie wir Organisationen sehen können.

Bill Brysons „Eine kurze Geschichte von fast allem” ist ein spannender und unterhaltsamer Ritt durch das Universum, die Entstehung des Lebens und die Geschichte der Naturwissen­schaften.

Sean B. Carroll: „Endless Forms Most Beautiful, The new Science of Evo Devo“ zeigt uns eine moderne Sicht der Biologie auf die Evolution.

In den letzten Jahren sind die eher technischen Ansätze zu Systemen (Kybernetik, System Dynamics …) einem organischeren Verständnis gewichen, das aus dem Studium natürlicher Systeme aber auch aus der Chaos- und Komplexitätsheorie entstanden ist. James Gleick: „Chaos“ führt uns durch einige Durchbrüche in Mathematik und Physik, die diesen Wandel bewirkt haben.

Wissen über Variation

Wie Deming schon ausgeführt hat, spielt die Variation über die Zeit aber auch in den Komponenten eines Systems eine zentrale Rolle in einem modernen Systemverständnis. Die bisher vorgeschlagenen Bücher zeigen das unzweifelhaft.

Mit diesen Einsichten verändert sich auch unser Blickwinkel auf Variation und wir verstehen, dass die Gausskurve nur einen kleinen Teil davon beschreiben kann. Nassim Nicholas Taleb: „Der Schwarze Schwan“ führt uns auf spannende Weise in die Welt – aus gängiger Sicht – höchst unwahrscheinlicher Ereignisse ein.

Eine etwas allgemeinere aber ebenfalls lesens- oder hörenswerte Einführung in die Rolle des Zufalls ist Leonard Mlodinow: The Drunkard’s Walk.

Theorie des Wissens

Die bisherigen Hörbücher haben gründlich das erschüttert, was wir zu wissen geglaubt haben oder auch was wir überhaupt wissen können.

In „Alles ist nur Vermutung“ skizziert Karl Popper seinen kritischen Rationalismus. In seinen Vorträgen und Interviews warb er für Klarheit, Skepsis, Offenheit und Bescheidenheit. [5]

Wenn wir also nichts mit Sicherheit wissen können, was sollen wir dann tun, worüber können wir uns noch freuen? Eine vergnügliche Antwort gibt Richard Feynman in „The Pleasure of Finding Things Out“. [5, 6] Entdecken wir einfach die Welt!

Nun sind wir vielleicht keine Genies. Da kommen uns die Mathematiker Ed Burger und Michael Starbird zu Hilfe und zeigen in „5 Elements of Effective Thinking“, dass das Denken von Genies wie Feynman auf fünf einfachen Strategien beruht, die immer und immer wieder angewandt werden. Es ist also nicht zu spät!

Psychologie

Deming ging es in diesem Bereich des profunden Wissens hauptsächlich um Entwicklung und Motivation. Dazu zeigt Dan Pink in „Drive”, dass Selbstbestimmung, Lernen, Verbesserung und Sinn in Organisationen wirksamer sind als Kontrolle, Belohnung und Bestrafung. [7]

Brian Fagan ist Archäologe und bringt uns in „Cro-Magnon“ nahe, mit welchen Herausforderungen unsere direkten Vorfahren am Ende der Eiszeit konfrontiert waren und wie sie diese mit Koope­ration, Phantasie, Intelligenz und Erfindungs­gabe überwinden konnten. [8] Sicher verlässt das den Bereich der Psychologie. Aber unser Verhalten in Organisationen ist stark durch den Prozess der Zivilisation geprägt.

Fazit

Das System des profunden Wissens entwickelt sich also mit dem Fortschritt der Naturwissenschaften und steht uns weit offen. Sicher erfordert ein tieferes Eindringen in seine Gebiete noch etwas mehr, aber wenn es uns interessiert, dann stellt das kein Problem dar. Deming eröffnete seine 4-Tages-Seminare mit der Frage: „Warum sind wir hier?“. Seine Antwort war:

„Einige sind aus Neugier hier, andere, um einen Tag frei zu haben. Einige haben keine Idee, warum sie hier sind. Aber wir müssen ein Ziel haben. Unser Ziel ist es, Spaß zu haben.“ [9]

Meine Hypothese ist, dass das profunde Wissen jedem, der einen Zugang dazu findet, einen Nutzen und Vorteil bietet.

[1]
W. Edwards Deming: The New Economics for Industry, Government, Education,– 2nd ed. Cambridge Mass. 1994, Ch. 4. Ein Auszug dieses Kapitels ist hier beim W. Edwards Deming Institute zu finden.
[2]
Ich finde es bemerkenswert, dass Deming hier die Außensicht so betonte. Offensichtlich war er zum Schluss gekommen, dass eine Reform des Managements nicht von innen kommen würde. Er selbst hatte diese Außensicht. Schließlich hatte er etwa 20 Jahre als Physiker und 30 Jahre als Statistiker gearbeitet bevor er sich ab Ende der 70-er Jahre mit der Veränderung des Management in den USA befasste. Sein Consulting für das japanische Management Anfang der 50-er Jahre hatte er während seiner Arbeit als Statistiker durchgeführt.
[3]
ebenda.
[4]
Campbell, Reece: Biologie.– 8. Auflage, 2009, S. 8
[5]
Diese Inhalte sind teilweise auf Youtube zu finden.
[6]
Feynmans Buch auf deutsch (kein Hörbuch): „Es ist so einfach: Vom Vergnügen, Dinge zu entdecken“
[7]
Pinks Buch auf deutsch (kein Hörbuch): „Drive: Was Sie wirklich motiviert“
[8]
Fagans Buch auf deutsch (kein Hörbuch): „Cro-Magnon: Das Ende der Eiszeit und die ersten Menschen“
[9]
W.J. Latzko, D.M. Saunders: Four Days with Dr. Deming, A Strategy for Modern Methods of Management.– Reading Mass., 1995

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