Systeme und ihre Constraints

Paul.Bayer am 9. March 2010 um 07:00

Natürliche Systeme entwickeln sich durch Speziali­sierung und Anpassung. In der Ausein­andersetzung und im Kontakt mit ihrer Umwelt, also mit anderen Systemen stoßen sie an innere und äußere Grenzen, an die sich anpassen oder die sie überwinden müssen. Spezielle Fähig­keiten grenzen Systeme von anderen ab und ermöglichen ihnen das Überleben in ihrer Nische, aber beschränken sie auch.

Constraints [1], die inneren und äußeren Abhängigkeiten und Beschränkungen von Systemen entwickeln sich im evolutionären Prozess, charakterisieren Systeme und begrenzen sie gleichzeitig in ihren Möglichkeiten. Um die Naturkräfte zu nutzen, führen wir Menschen weitere Formen, Strukturen, Einschränkungen und Abhängig­keiten ein, oder heben bestehende auf. Wir lenken und stauen Flüsse, bauen Häuser, domestizieren Tiere, bändigen das Feuer, wandeln Energie um, konzent­rieren sie usw. Damit schließen wir Möglichkeiten aus und schaffen neue und machen uns die Natur für unsere Zwecke zu Nutze.

Constraints und das Cynefin-Modell

Systeme und ihre Entwicklung können also durch ihre Constraints charakterisiert werden:

Constraints sind der Schlüssel, um Komplexität zu verstehen. Sie steuern den Übergang zwischen den drei Zuständen [von Systemen]. Verstärke die Einschränkungen und du erzeugst ein geordnetes System. Mache das unsachgemäß und du schaffst Bedingungen für katastrophales Versagen. Entferne Einschränkungen und das System wird chaotisch. Beschränke das System leicht und erlaube gleichzeitig, dass es von den in ihm Handelnden abgewandelt wird, und du ermöglichst Evolution und das Entstehen von Sinn. [2]

Entsprechend können die vier Domänen des Cynefin-Modells durch die Art ihrer Einschränkungen beschrieben werden:

Das Cynefin-Modell

  • einfach: In einem einfachen System werden die Handelnden durch das System eingeschränkt. Handlungen werden durch „best practice“ angeleitet. Der Fokus liegt auf Kontrolle und Effizienz, um bekannte Ursachen und Wirkungen so gut wie möglich zu nutzen. Zu starke Einschränkungen machen das System rigide und können aufgrund mangelnder Anpassungsfähigkeit zu katastrophalem Versagen führen [3].
  • kompliziert: Auch hier werden die Handelnden durch das System einge­schränkt, aber da das System stark von Expertenwissen abhängt, sind die dezentralen Knoten viel stärker. Hier muss mit Lösungsräumen gearbeitet werden, da es nicht eine einzige richtige Lösung gibt. Kontrolle funktioniert nur wenig.
  • Im komplexen System sind die Handelnden voneinander abhängig und erzeugen so das Systemverhalten (durch Emergenz). Handelnde und das emer­gente System schränken sich wechselseitig ein. Die Verhältnisse sind im Fluss und kaum vorhersagbar. Das System verändert seine Zustände abhängig von inneren und äußeren Einflüssen. Eine Zentrale hat hier eher eine Koordinierungsrolle.
  • In der chaotischen Domäne gibt es kaum Einschränkungen. Das System befindet sich in einem kritischen Zustand ständiger und unvorhersagbarer Veränderung ohne stabile Zwischenzustände. Die Situation ist für die Beteiligten neuartig. Es ist notwendig, Einschränkungen einzuführen und das System in einen der anderen Zustände zu bringen [4].

In der Realität bestehen Systeme, Probleme, Situationen meist aus Elementen aus mehreren Domänen, aber sie können einen Schwerpunkt in einer der Domänen haben.

Systeme und ihr Engpass

Nur sehr wenige Constraints schränken ein System bei seiner Zielerreichung ein und werden so zu seinem Engpass. Das wird mit der Kettenanalogie der Theory of Constraints deutlich:

Systeme erscheinen uns zunächst als Gewirr von Abhängigkeiten. Aber wenn wir auf das Ziel und den Zweck schauen, die ein System erfüllt, können wir dieses Gewirr in zeitliche und logische Abhängigkeiten auflösen. Dann kom­men wir zu einer Kette von Ereignissen und Bedingungen, die erfüllt werden müssen, um z.B. ein Produkt zu erzeugen oder eine Dienstleistung zu erbringen.

Die Kettenanalogie der Theory of Constraints

Bezogen auf diese Kette können wir uns jetzt verschiedene Fragen stellen, z.B.:

  • Sind alle diese Glieder zur Zielerreichung notwendig?
  • Sind die Glieder richtig dimensioniert?
  • Wo ist das schwächste Glied?

Der erste Schritt der Prozessverbesserung ist daher immer, sich das Ziel und die Kette der Abhängigkeiten zur Zielerreichung klar zu machen.

Fokus auf den System-Constraint

In einer Kette abhängiger Ereignisse gibt es nur ein schwächstes Glied. Selbst in einem Gewirr von Ketten bestimmen nur sehr wenige Glieder die Stärke des Gesamt­systems. Der wirkungsvollste Weg, die Leistung eines Systems zu verbessern, besteht darin, sein schwächstes Glied zu verstärken. Das ist der Ansatz der Theory of Constraints.

Die TOC orientiert sich am Gesamtziel des Systems und fragt nach dem System-Constraint oder Engpass, also nach derjenigen Ein­schränkung, die das System davon abhält, sein Ziel zu erreichen. Durch eine Verstärkung des schwächsten Gliedes, also durch bessere Auslastung, Unterstützung und Erweiterung des jeweiligen Engpasses kann das Ergebnis des Systems am wirksamsten verbessert werden.

Fazit

Wir können den Zustand von Systemen entscheidend ändern indem wir Constraints einführen, lockern oder verschieben. Ein gutes Verständnis von Systemen und ein richtiges Management der System-Constraints ist der Schlüssel zur Verbesserung. Oft sind von Menschen geschaffene Systeme oder Organi­sationen überbestimmt und haben zuviele Einschränkungen. Ein zentraler Punkt des Engpassmanagements besteht deshalb darin, zu erkennen, wo der System-Constraint liegt und wie er gelockert werden kann. So können die inneren Ener­gien und Potenziale der Organisation entfaltet werden.

[1]
Für das englische Wort „Constraint“ gibt es keine klare Übersetzung. Es kommt aus dem lateinischen constringere, für „fest zusammenbinden“.

Eine gute Definition liefert das Principia Cybernetica Web:

Constraints sind durch die Natur oder durch den Menschen auferlegte Beschränkungen, die bestimmte Handlungen nicht zulassen. Constraints können bedeuten, dass bestimmte Ziele nicht erreicht werden können. Diejenigen Aktionen, Alternativen, Konsequenzen und Ziele, die durch die Constraints nicht ausgeschlossen werden, gelten als machbar. In einer Analyse können einige Constraints als hart oder unan­zweifelbar angesehen werden, andere … können als elastisch oder aufhebbar gelten, wenn die Analyse dafür gute Argumente liefert. … Es ist nützlich, zwischen kuzfristigen und langfristigen Constraints zu zu unterscheiden: zum Beispiel kann die Gesetz­gebung kurzfristig eine Einschränkung darstellen, aber nicht notwendigerweise langfristig. Mathematisch ausgedrückt: mit einem Aktions-, Wirkungs- und Zielraum bestimmen die Constraints eine zulässige Menge in jedem dieser Räume.

[2]
Dave Snowden in 5Cs. Er spricht hier von drei Zuständen: geordnet, komplex und chaotisch. Die einfache und komplizierte Domain des Cynefin-Modells gehören beide zum geordneten Zustand.
[3]
Bei zu vielen Constraints ist ein System überbestimmt (over-constrained, z.B.:  X < Y; Y < Z; Z < X; ). Ein solches System hat keine Lösungen. Es funktioniert nicht. In diesem Fall müssen Constraints gelockert und aufge­hoben werden.
[4]
Bei zu wenig Constraints ist ein System unbestimmt (under-constrained). Es hat unendlich viele Lösungen. In diesem Fall müssen Constraints eingeführt werden. Überlebens- und funktionsfähig sind nur richtig bestimmte Systeme (well-constrained). Sie haben nicht mehr Einschränkungen als unbedingt erforderlich (semi-constrained).

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