Problemverschiebung

Paul.Bayer am 21. January 2010 um 21:27

Im vorangegangenen Beitrag „Problemknoten“ sind die Experten schlecht weggekommen. Damit es nicht so aussieht als ginge es hier um Schuldzu­weisungen, möchte ich die individuellen Seiten der Problemverschiebung noch näher beleuchten.

Systemarchetyp Problemverschiebung

Was Peter Senge als „Problemverschie­bung“ (Shifting the Burden) beschrieben hat, ist eine Dynamik, die für ein Spek­trum menschlicher Verhaltensweisen angewendet werden kann, von der Sucht bis zur Problemlösung. In allen Fällen geht es darum, die momentanen Schmer­zen zu lindern. Aber diese Linderung führt leicht in die Abhängig­keit. Sie führt um so leichter in die Abhängigkeit, je schwerer das unterliegende Problem zu lösen ist. Schwieriger zu lösende Prob­leme erzeugen oft mehr Schmerzen, und Aufwand und Zeit, um sie zu lösen sind ebenfalls höher. Das Mehr an Energie, das dabei in Symptombekämpfung gesteckt wird, geht zu Lasten der Ursachenbekämpfung, besonders, wenn die Ressourcen für die Problemlösung begrenzt sind, wenn man sich nicht genügend Zeit dafür nimmt usw.

Die Dynamik startet also damit, dass man das Problem nicht genügend ernst nimmt: „schließlich sind wir Experten und haben schon viele Probleme gelöst …“ Ein Problem nicht ernst genug zu nehmen bedeutet, nicht ausreichend nachzu­fragen. Wir machen die Aussage, dass es sich nicht um etwas Schwieriges handeln sollte usw. Schon hat der Zyklus gestartet. Die Symptome lassen nicht nach und wir kommen ins Schwitzen.

Problemlösung, verzerrte Wahrnehmung und Stress

Jetzt setzt ein natürlicher Fokussierungs­mechanismus ein, bei dem wir uns auf vorgefasste Meinungen und Lösungen versteifen. Wir glauben ja, dass wir die richtige Lösungsrichtung schon wissen. Je verzweifelter wir versuchen, die Lösung (L) in Richtung unserer Vermu­tungen (V) zu suchen, desto weniger hinterfragen wir die Richtung in die wir schauen (PIV). Die Irrtümer, denen wir dabei unterliegen sind seit den Arbeiten von Kahneman und Tversky Anfang der 70-er Jahre ausführlich klassifiziert, untersucht und experimentell belegt worden. Unsere kognitiven Verzerrungen (cognitive biases) haben gravierende negative Einflüsse auf Problemlöse­fähigkeiten oder wissen­schaftliches Arbeiten [1]. Hier nur einige Beispiele:

  • Mitläufereffekt: die Tendenz etwas zu glauben oder zu tun, weil es viele andere Leute glauben oder tun.
  • Die Eckzinstäuschung: die Tendenz, statistische Daten zugunsten auffälliger Einzeldaten zu ignorieren.
  • Der blinde Fleck: die Tendenz, die eigenen Wahrnehmungsverzerrungen nicht zu berücksichtigen.
  • Bestätigungstendenz: die Neigung, die passenden Informationen zu suchen und sie so zu interpretieren, dass die eigenen Auffassungen bestätigt werden.
  • Erwartungsverzerrung: die Neigung, bei Experimenten denjenigen Daten Glauben zu schenken, die mit unseren Erwartungen übereinstimmen und Daten oder Ergebnissen zu misstrauen, die mit unseren Erwartungen in Konflikt stehen [2].

Wir graben uns also mit unseren Vermutungen ein. Aber es kommt noch schlimmer: je länger wir das Problem nicht lösen können, um so höher wird – bei großen Problemen – der Druck und damit der Stress. Stress hat aber nachgewiesene negative Einflüsse auf Denkvermögen, Kreativität und Problem­lösefähigkeiten.

Wenn der Stress zu stark wird oder zu lange dauert, beginnt er, das Lernen zu beeinträchtigen. Der Einfluss kann vernichtend sein. … Gestresste Personen können nicht so gut verallgemeinern oder alte Informationen auf neue Szenarien anwenden wie nicht-gestresste Personen. Sie können sich nicht konzentrieren. Auf fast jede nach­weisbare Weise beeinträchtigt Stress unser Lernvermögen. Eine Studie zeigte, dass Erwachsene unter hohen Stressniveaus in bestimmten Wahrnehmungstests 50% schlechter abschnitten als Erwachsene unter geringem Stress. Insbesondere schadet Stress dem erklärenden Gedächtnis (Dinge, die man erklären kann) und der ausführenden Funktion (der Art von Denken, die man beim Problem­lösen benötigt). [3]

Dauerstress vermindert die Fähigkeit, zu erkennen, dass man sich festgefahren hat und die eingefahrenen Gleise zu verlassen [4].

Divergentes und konvergentes Denken

Symptomatische Problemlösung und Ursachenbekämpfung sind gegensätzlich und schließen sich gegenseitig aus. Sie müssen klar getrennt werden und dürfen nicht miteinander verwechselt werden.

Die Dilemmawolke für Problemlösung

Symptombekämpfung startet mit konvergentem Denken und fokussiert auf Lösungen. Ursachen werden dabei nur sehr oberflächlich betrachtet und nicht hinterfragt. Symptombekämpfung geht davon aus, dass wir das Problem kennen. Sie ist auf den schnellen Erfolg, auf Linderung aus.

Ursachenbekämpfung beginnt mit der Annahme, dass wir das Problem nicht kennen, dass wir Zeit und Experimente benötigen, um es zu untersuchen und eine Lösung zu finden. Wir müssen also zunächst den Suchraum klären (z.B. indem wir vor Ort gehen und die Situation erfassen) und dann fokussieren. Richtige Lösungssuche ist ebenfalls immer zunächst divergentes Denken, bei dem man mehrere, auch konträre Meinungen und Optionen erzeugen und in Betracht ziehen muss, bevor man auf bestimmte Ideen fokussiert. Um ein schwieriges Problem zu lösen, brauchen wir mehrere Iterationen von divergentem und konvergentem Denken [5].

Gute Problem­lösetechniken trennen diesen Konflikt in der Zeit und unterschieden zwischen Sofortmaßnahme und Abstellmaßnahme. Sie versuchen, die Sofort­maßnahme schnell abzuschließen und dann einen Schwerpunkt auf die systematische Ursachenfindung und -lösung zu legen.

Fazit

Richtige Problemlösung erfordert grundlegende Kenntnisse der Fallen, in die man nur zu leicht geraten kann, und einen guten Prozess, der diese Fallen vermeidet. Die erforderlichen Kenntnisse entstehen erst durch Theorie und Praxis.

Aufgabe von Führungskräften ist es, den Mitarbeitern zu helfen, diese Fallen zu vermeiden. Sie brauchen dafür selbst das erforderliche Wissen und müssen lernen, die Fallen zu erkennen. Geeignete Trainingsmaßnahmen vermitteln Führungskräften und Mitarbeitern die Kenntnisse und bereiten sie darauf vor, diese Probleme zu erkennen und zu vermeiden. Ohne ein solches Training verheddern sie sich fast zwangsläufig in psychologischer Trägheit und Symptombekämpfung. Sie brauchen dann professionelle Unterstützung.

Der letzte Punkt ist, dass Dauerstress in Organisationen sich zum „Krebs“ entwickeln kann, der die Fähigkeit der Organisationsmitglieder und des Gesamt­organismus zur Problemlösung schädigt und für die Organisation in eine Art Teufelskreis führen kann.

[1]
Vgl. dazu diesen ausgezeichneten Artikel aus WIRED: „Accept Defeat: The Neuroscience of Screwing Up“. Wenn Sie dem Link im Artikel zur Seite von Kevin Dunbar folgen, finden Sie dort noch mehr interessantes Material.
[2]
In den letzten Jahren sind einige sehr empfehlenswerte Bücher erschienen, die diese und andere Wahrnehmungsverzerrungen ausführlicher erläutern. z.B. Dan Ariely: Denken hilft zwar, nützt aber nichts oder Brafman&Brafman: Kopflos: Wie unser Bauchgefühl uns in die Irre führt.
[3]
John Medina: Brain Rules; Seattle 2008, S. 178, vgl. dazu auch das Kapitel 8 auf der Website des Buches. Die deutsche Ausgabe heißt Gehirn und Erfolg: 12 Regeln für Schule, Beruf und Alltag
[4]
Vgl. dazu auch den NYT-Artikel „Brain Is a Co-Conspirator in a Vicious Stress Loop“ von Natalie Angier
[5]
Z.B. der Creative Problem Solving Process (CPS) benutzt systematisch hintereinander Phasen von divergierendem und konvergierendem Denken. Siehe dazu auch diesen Eintrag vom creaffective-Blog.

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