Problemknoten
Paul.Bayer am 14. January 2010 um 20:35Viele Organisationen werden von großen, hartnäckigen Problemen geplagt. Die Bearbeitung und Lösung dieser Probleme folgt einem typischen Muster: Über längere Zeit werden immer wieder ohne Erfolg dieselben Lösungsansätze versucht. Druck und Nervosität steigen, die Problembearbeitung wird immer hektischer. Irgendwann – wenn überhaupt, dann meist sehr spät – wird eine neue Vorgehensweise mit neuen Leuten aufgesetzt, denen es gelingt, das Problem zu lösen. Solche brennenden Probleme können sehr wohl ein so großes Ausmaß annehmen, dass sie zum Engpass einer Organisation werden.
Ich habe die Entstehung dieses Problemknotens in einem TOC Gegenwartsbaum dargestellt. Er skizziert die Entstehung der unerwünschten Wirkungen (gelbe Themen oben) aus ihren Kernursachen (unten) und die Rückkopplungen, die zur Eskalation und zum Festfahren in der Vorgehensweise führen. Er behandelt nicht, wie das Problem ursprünglich entstanden ist (dazu bald ein gesonderter Beitrag). Sondern er zeigt, wie sich kaum beherrschbare Komplexität aus einer überschaubaren Anzahl von Ursachen und Wirkungen entwickelt. Die unerwünschten Wirkungen sind emergent: sie entwickeln sich im Lauf der Zeit und nehmen ein „Eigenleben“ an. Das macht es schwierig, Ursachen und Wirkungen zu erkennen [1].
Der Baum beschreibt nicht alle Facetten der Situation, sondern nur die wichtigsten Ursachen und Wirkungen. In Wirklichkeit kann eine solche Situation noch viel weiter „eskalieren“ und bis zu Orientierungslosigkeit und physischen oder psychischen Schäden von Beteiligten führen.
Psychologische Trägheit
Der entscheidende Mechanismus ist im Baum rechts unten und hat sehr stark mit menschlicher Psychologie zu tun: wenn Menschen längere Zeit an einem Problem arbeiten, dann entwickeln sie eine Art Betriebsblindheit, die psychologische Trägheit [2]. Sie haben starke Erklärungen, warum ihre bisherigen Ansätze, das Problem zu lösen, nicht funktioniert haben. Da sie viele Details des Problems kennen, haben andere Leute Schwierigkeiten, ihren Argumenten überzeugend zu widersprechen. Führungskräfte, die jetzt in die Problemlösung intervenieren, stehen unter Zeitdruck und riskieren es in dieser Gemengelage oft nicht, den Experten zu widersprechen und eine neue Vorgehensweise aufzusetzen. Dadurch wird die erfolglose Vorgehensweise der Problembearbeitung über längere Zeit weitergetrieben und sogar intensiviert. Aber – im Nachhinein betrachtet – ist es immer nur eine frische Vorgehensweise, die zur Lösung hartnäckiger Probleme und zur Überwindung der psychologischen Trägheit führt. Es ist eine gute Regel, anzunehmen, dass nach längeren erfolglosen Versuchen, ein Problem zu lösen die bisherige Vorgehensweise grundlegend in Frage gestellt werden muss.
Der Mechanismus der psychologischen Trägheit hat meistens mit Symptombekämpfung zu tun. In der Regel werden zunächst die verantwortlichen Experten mit der Problemlösung betraut. Sie sind von der grundlegenden Funktionsfähigkeit „ihres“ Produkts oder Prozesses überzeugt. Sie versuchen, zu optimieren und „ihre“ Angelegenheit schnell zum Laufen zu bringen. Sie neigen dazu, Symptome zu bekämpfen, aber nicht das Konzept und ihre grundlegenden Annahmen in Frage zu stellen. Wenn aber die Ursache des Problems bei den grundlegenden Annahmen liegt, können die Experten nur in wirklich seltenen Fällen das Problem lösen.
Problemverschiebung
Weshalb nun dieser Knoten so schwer zu durchbrechen ist, hat mit einer Dynamik zu tun, die Peter Senge als „Problemverschiebung“ (Shifting the Burden) beschrieben hat [3]: Da natürlich bei einem größeren Problem zunächst die Symptome die größten Schmerzen bereiten, muss man diese auch bekämpfen. Aber die Symptombekämpfung hat einen negativen Seiteneffekt, der die Fähigkeit des Systems (eines Menschen, einer Organisation) zur Ursachenbekämpfung also zur wirklichen Abhilfe und Heilung verringert.
Die vermeintliche Therapie der Experten, das System zu optimieren, wird also hier zum neuen Problem, weil sie den Blick auf die wirklichen Ursachen des Problems und auf seine Lösung versperrt. Je länger man sich auf die Experten verlässt, desto abhängiger wird man von ihnen. Wenn dann noch komplizierte „Lösungen“ eingeführt werden, ist man zunehmend damit beschäftigt, diese „Lösungen“ zum Laufen zu bringen oder am Leben zu erhalten. Kommt uns das bekannt vor?
Im Denkprozess können wir den Basiskonflikt als Dilemmawolke darstellen (im Gegenwartsbaum unten). Wir spitzen den Konflikt mit Hilfe der Dilemmawolke zu, um ihn nachhaltig auflösen zu können („Evaporating Clouds“). Aber dazu mehr in einem gesonderten Beitrag.
Erkennungsmuster und Heuristiken
Ich möchte hier nur noch einige praktische Hinweise geben, um diese Dynamiken frühzeitig zu erkennen und um den Knoten aufzulösen. Das Muster kann am leichtesten anhand der Aussagen der „Experten“ erkannt werden [4]:
- Andere Leute seien schuld, weil sie ihre Arbeit nicht richtig machten, ihre Prozesse nicht beherrschten, sie hintergingen, ihre Lösungen nicht umgesetzt hätten …
- Das ganze Problem sei sehr kompliziert oder komplex. Eine kleine Änderung an einer Stelle könne eine große Auswirkung an anderer Stelle haben. Wenn man versucht, die grundlegenden Sachverhalte zu erfragen, dann blockieren sie mit der Aussage, dass das alles viel komplizierter sei.
- Alles sei schon untersucht und versucht worden.
- Sie unterscheiden nicht zwischen zufälligen Schwankungen und besonderen Ursachen. Sie ignorieren die natürliche Variation von Einflussgrößen oder versuchen, im Rauschen zu optimieren, komplizierte Erklärungen für zufällige Ereignisse zu finden …
Um den Knoten aufzulösen, muss die Abhängigkeit von den „Experten“ und von symptomatischer Problemlösung geschwächt werden:
- Zunächst ist man gut beraten, die Erklärungsansätze der Experten neu zu hinterfragen und zu überprüfen und nach neuen Erklärungsansätzen zu suchen. Basis der Arbeit müssen Fakten und Beobachtungen sein, weniger die Aussagen, Erfahrungen und Vermutungen der Experten.
- Die Problemlösung muss auf einen Durchbruch zielen, auf eine Verbesserung, die bisher nicht für möglich gehalten wird [5].
- Dazu müssen neue Leute wie z.B. Physiker und Problemlöser [6] neue Fragen und Ansätze ins Spiel bringen. Deren Basis ist die wissenschaftliche Arbeitsweise.
- Mit einem pragmatischen und experimentellen Ansatz müssen Fragestellungen, Ideen und Lösungen getestet werden. Die Domäne der Experten ist langatmige Diskussion. Diese Domäne muss in Richtung schneller Experimente und schnellen Lernens verschoben werden.
- Lösungen für vertrackte Probleme widersprechen der Intuition und den bisherigen Annahmen der Experten. Die einzige Möglichkeit, Lösungen ins Spiel zu bringen besteht hier in experimentellen Nachweisen.
- Wichtig ist es, mit Lösungsräumen zu arbeiten, also mehrere Lösungen für ein Problem zu suchen und diese parallel zu testen.
- Erfindungsmethoden wie TRIZ enthalten gezielte Techniken zur Überwindung psychologischer Trägheit. Die Shainin-Technik ist experimentell und geht von physikalischen und statistischen Sachverhalten aus, nicht von der Expertenmeinung [7]. Eine Kombination von TRIZ und Shainin-Techniken ist bei technischen Problemen ein kräftiges Gespann.
- Wenn diese Ansätze in einem neuen Weg für die Problemlösung zusammenfließen, dann entsteht ein Lernprozess, der bald zu neuen Lösungen führt.
Meine Erfahrung ist, dass der Knoten relativ schnell platzt, sobald man anfängt, die bisherigen Ansätze der Experten massiv anzuzweifeln. Dieses Anzweifeln muss vom Management eingebracht werden. Man muss darauf achten, dabei nicht die Person, sondern die Sache in Frage zu stellen. Wirkliche Innovationen sind nur so zustande gekommen.
Am Ende stellt sich mir die Frage, ob nicht viele Dilemmata und komplexe Situationen ähnlicher Natur sind, z.B. im Projektmanagement, im Vertrieb, in der Kostenrechnung [8]. Sind die „Experten“ dort immer hilfreich? Sind ihre „Best Practices“ Lösungen oder eher Hindernisse?