Offene Fragen

Paul.Bayer am 23. December 2011 um 20:55

Das Jahr 2011 hat mir mehr Fragen als Antworten beschert. Einige von ihnen sind so grundlegend und stark, dass sie das Potenzial haben, meine Sichtweise und damit auch die Themen auf wandelweb.de zu verändern. Deswegen möchte ich die Leser meines Blogs daran teilhaben lassen.

Born to Run

2011 begann mit der Lektüre von Christopher McDougalls „Born to Run”. Abgesehen von zahlreichen Inspira­tionen für mein Lauftraining fand ich McDougalls Hinweis auf die Verbindung zwischen Laufen und Kreativität faszinierend. Er zitiert Louis Liebenberg, der in „The Art of Tracking“ argumentiert, dass sich die menschliche Fähig­keit zur Abstraktion und zum konzeptionellen Denken aus dem Spurenlesen und der Jagd nach Beute entwickelt hat. Das führt mich zu folgenden Fragen:

  1. Frage: Erfordern Kreativität und konzeptionelles Denken das Verfolgen von Sinn und Zielen?
  2. Frage: Können Organisationen die Potenziale ihrer Mitarbeiter dementspre­chend nur nutzen, wenn sie sinnvolle Ziele haben?
  3. Frage: Ist der Mensch umgekehrt darauf programmiert, auf der Flucht (vor Raubtieren) Kreativität und konzeptionelles Denken auszuschalten und sind diese Potenziale also blockiert, wenn Angst ins Spiel kommt? Das könnte ein Grund für viele Verhaltensweisen und Entscheidungen „ohne Verstand“ sein.

Goldratts Erbe

Am 11. Juni ist Eli Goldratt, der Erfinder der Theory of Constraints gestorben und hat uns ein großes Lebenswerk aber auch eine noch größere Baustelle hinter­lassen. Es entspricht auch seinem letzten Wunsch, dass seine Arbeit weiter­entwickelt wird, er hat uns dafür einen Prozess vermacht. Im „vierten Pfeiler der TOC“ (ich weiß, dass ich nichts weiß) unterstrich Goldratt, dass die TOC ein offenes System ist und dass auf Basis der bisherigen Einsichten der TOC immer mehr ungenutzte Potenziale deutlich werden, von denen wir noch lange nicht wissen, wie wir sie heben können.

  1. Frage: Was ist der Constraint, der die Verbreitung und Anwendung der TOC behindert?
  2. Frage: Was ist vom letzten Ansatz von Eli Goldratt zu halten: „Management attention is the constraint of organizations“?
  3. Frage: Management Aufmerksamkeit wird auch deshalb so stark gebunden, weil Prozesse und Organisationen instabil sind und permanente Aufmerk­samkeit erfordern. Was sind die Ursachen für Instabilität, wie kann man damit umgehen?
  4. Frage: Auf der TOCICO 2010 hat Goldratt in seinem letzten Auftritt Steve Holt für seinen Vortrag über das Cynefin Modell umarmt. Er hat es aber danach nicht geschafft – wie angekündigt – TOC und Cynefin zusammenzubringen. Wie passen TOC und Cynefin zusammen? [1]

Irrationalität

2011 hat wieder und wieder vor Augen geführt, in welchem Ausmaß Öffentlichkeit und Organisationen von Fehlurteilen geprägt sind. Fukushima war nur das offensichtlichste Beispiel: man baut vier Atomkraftwerke nebeneinander an eine Küste, die bekanntermaßen immer wieder von Tsunamis heimgesucht wird und wiegt sich dann in Sicherheit – je länger nichts passiert, desto sicherer …

Daniel Kahneman hat jetzt ein faszinierendes Resümee seiner jahrzehn­telangen Arbeit zu diesem Thema geschrieben: „Thinking, Fast and Slow“ [2]. Er zeigt, wie das „langsame“ analytische Denken durch Vorurteile aus dem „schnellen“ intuitiven Erfahrungswissen beeinflusst wird.

  1. Frage: Entstehen „irrationale“ Verhaltensweisen und Entscheidungen in Organi­sationen, weil keine Zeit da ist, das zu reflektieren, was man tut, ein Experiment durchzuführen, die Ergebnisse kritisch zu hinterfragen und zu lernen? Ist die Managementpraxis also aus Zeitmangel von nicht hinterfragten Faustregeln und Vorurteilen durch­zogen? [3]
  2. Frage: Ist das der gesuchte Constraint, der die Verbreitung systematischer Ansätze zur Verbesserung wie PDCA, statistischer Prozessregelung oder eben TOC behindert? [4]

Netzwerke

In einem Blogbeitrag habe ich 2011 gezeigt, dass Komplexität gleichbedeutend mit mangelndem Verständ­nis einer Situation ist. Mangelndes Verständnis folgt auch aus falschen Annahmen und Modellen. Hilfe kommt da von den Computer- und Naturwissenschaften, die Netzwerke untersuchen. Die Wissen­schaftler vertreten die Auffassung, dass die Netzwerkforschung geeignetere Aussagen über komplexe Situationen treffen kann als die bisherigen Theorien [5].

  1. Frage: Was sind die Ergebnisse und Ansätze der Netzwerkforschung und welche Bedeutung haben sie für das Verständnis von Organisationen und von Verhaltensweisen der Organisationsmitglieder?

Den Netzwerkansatz finde ich besonders interessant, weil er viel besser zur dynamischen und facettenreichen Realität von Organisationen passt als eine Sichtweise einer Organisation als geordnetes und geschlossenes System.

Insgesamt sind das – wie ich finde – zehn spannende miteinander verbundene Fragen, deren Klärung einige Mühen und Zeit in Anspruch nehmen wird und die Stoff für interessante Blogbeiträge bieten.

[1]
Der Schlüssel dazu ist das unterschiedliche Verständnis von Constraints in der TOC und im Cynefin-Modell.
[2]
vgl dazu die Buchbesprechung in der NYT vom 25.11.11 von Jim Holt: Two Brains Running oder die Besprechung von Herbert Gintis: Lots of Truth, Too Much Hype.
[3]
Die Arbeit von Kahneman und Tversky wurde unter dem Titel „Heuristics and Biases“ veröffentlicht. Heuristiken und kognitive Verzerrungen erzeugen irrational erscheinende, nicht durch Vernunft begründete Handlungen.
[4]
Hier gibt es eine interessante Verbindung zwischen den Fragen 3–6, 8 und 9.
[5]
Einige Aspekte aus der Netzwerkforschung für unser Verständnis komplexer Systeme werden in der Nature Physics Insight vom Januar 2012 behandelt.

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