Die ungenutzten Potenziale

Paul.Bayer am 16. May 2010 um 15:23

Vor etwas mehr als zwanzig Jahren hielt ich mein erstes Buch über das Toyota Produktionssystem in Händen, „Kiyoshi Suzaki: Modernes Management im Produktionsbetrieb“ [1]. Damals war die Automatisierungswelle noch voll im Gange. Aber es sickerte bereits durch, dass japanische Hersteller trotz geringerer Automatisierung wesentlich produktiver waren. Also hatte ich große Erwartun­gen an dieses Buch. Ich las es, verstand es, alles war schlüssig. Trotzdem gab mir dieses Buch ein Rätsel auf: Es war alles so einfach! Das war nicht möglich. Das „Geheimnis“ musste woanders liegen.

Immerhin hatten wir von der großen Beteiligung der Mitarbeiter in den japanischen Unternehmen gehört, von Kaizen-Teian usw. Also lag das „Geheimnis“ wahr­scheinlich da. Nachdem 1990 dann Womack und Jones „The Machine that Changed the World“ brachten, entstand in Managementkreisen schnell Gewissheit. Flugs wurde allerorten „Gruppenarbeit“ eingeführt. Aber davon blieben meist nur Gruppenbesprechungen übrig. Immerhin! Als 1994 Suzakis zweites Buch „Die ungenutzten Potenziale“ [2] erschien, war das Interesse des Managements an Gruppenarbeit schon fast wieder verebbt. Die erste Lean-Welle in Deutschland flachte ab und die Manager wandten sich der nächsten Hype zu, der Einführung der Informationstechnik, ERP, SAP usw.

Vergleich von mechanischer und biologischer Organisation

Suzakis Sichtweise von einem Unternehmen als biologischem Organismus, nicht als Maschine hat mich aber seither fasziniert und ich denke, dass sie in den meisten westlichen Unternehmen bis heute nicht verstanden ist.

Ein neues Management

Trotz so mancher gescheiterter Versuche ist die Raffinesse der Organisation natür­licher Systeme, vor allem der Menschen und ihrer Gesellschaft bis heute durch kein künstliches System erreicht worden. Die Wirksamkeit jeder Organisation und jedes Unternehmens steht und fällt mit ihrer Fähigkeit, die ungeheuren Poten­ziale ihrer Mitglieder zum Lernen und zur Selbstorganisation zu nutzen und zu entwickeln.

Kiyoshi Suzaki argumentierte, dass der Kern eines neuen Managements darin besteht, die ungenutzten Potenziale der Organisation, ihrer Mitglieder und ihres Zusammenwirkens zu nutzen und zu entwickeln. Ich denke, dass das den Kern von Demings Philosophie, des Toyota Wegs, von Constraints Management … trifft. Deswegen biete ich hier meine Liste der ungenutzten Potenziale an:

  • Sinn erzeugen: Viktor Frankl hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Sinn einer der stärksten Antriebe der Menschen ist. Warum und Wozu machen wir etwas? … Ausrichten der Organisation auf den Kunden­nutzen, die Wertschöpfung erlaubt das Entwickeln der Stärken in diese Richtung. Shigeo Shingo fragte bei seinen legendären Rundgängen immer: „Wozu machen Sie das?“
  • Auftragstaktik: Sage den Teammitgliedern, was erreicht werden soll, erhalte ihre Zustimmung, es zu erreichen, dann gebe ihnen die Verantwortung es zu tun, aber ohne ihnen das Wie vorzuschreiben. Das erfordert und entwickelt Vertrauen. Unterstütze die Teamprozesse durch geeignete Vorkehrungen wie Visualisierung, Obeya usw.
  • Die drei Realitäten: am realen Ort (Gemba), an der realen Sache (Genbutsu) beobachten und arbeiten, dabei reales Wissen (Genjitsu) ein­setzen. Die Fähigkeiten des Menschen zur Mustererkennung, Kombination von Wissen und Problemlösung sind unübertroffen. Durch die drei Realitäten [3] fangen wir an, sie zu benutzen und zu entwickeln.
  • Die Kraft des Augenblicks: Probleme werden am besten dann erkannt und gelöst, wenn und wo sie auftreten. Die Lösungen, die dann gefunden werden, wenn man direkt handelt und gemeinsam ausprobiert sind oft die stärksten. Solche Momente können kreative Energie freisetzen. Das erfordert Führung. Umgekehrt wird die Energie durch Hinauszögern immer geringer. Sun Tsu sagte schon vor 2500 Jahren, dass noch nie ein Krieg durch Hinauszögern gewonnen wurde.
  • Die Kraft des Verstehens: nicht locker lassen bis man ein Problem oder System durchgreifend verstanden hat, Beteiligung der Mitarbeiter und ihres Wissens, Fördern und Schaffen von Wissensaustausch, Einsatz der wissen­schaftlichen Methode, systematisches Lernen und Verbesserung [4].
  • Die Stimme des Prozesses: jeder Prozess teilt uns seinen Zustand unauf­hörlich mit. Wir müssen die Stimme des Prozesses hören und in visuelle Signale (Symbole) übersetzen, die für uns Menschen Sinn machen. Dann werden wir den Prozess viel besser nutzen können [5].
  • Die 7 Qualitätswerkzeuge
  • Lösungsräume: Jedes System bietet innerhalb seiner Grenzen sehr viele mögliche Zustände, von denen wir oft nur einen kleinen Teil kennen. Durch systematisches Variieren von und Experimentieren mit den Parametern des Systems lernen wir das System viel besser kennen und können Lösungen finden, die wir nicht für möglich hielten [6].

Wenn die ungenutzten Potenziale zusammen eingesetzt werden, verstärken sie sich gegenseitig. In guten Teams können die ungenutzten Potenziale der Mitglieder zusammen eine vollkommen neue Energie und Qualität erzeugen.

Constraints Management und Selbstorganisation

Der Schlüssel zur Entfaltung der ungenutzten Potenziale ist Constraints Manage­ment:

  • Aufheben bestehender Constraints: Oft verhindern bestehende Konflikte, Regeln und Beschränkungen das Freiwerden der vorhandenen ungenutzten Potenziale. Die wichtigste Aufgabe des Managements ist es deswegen, den Mitarbeitern solche Hindernisse aus dem Weg zu schaffen.
  • Setzen neuer Constraints: Auf der anderen Seite ist es notwendig, die Entwicklung der Selbstorganisation anzustoßen und ihr eine Richtung zu geben, also die richtigen Rahmenbedingungen, Regeln und Methoden zu setzen, möglichst ohne dabei die Spielräume für die Mitarbeiter zu sehr einzu­schränken.

Constraints müssen spürbar sein, damit sie die Selbstorganisation kanalisieren können. Für komplexe adaptive Systeme wie Menschen und Organisationen müssen sie aber zugleich locker sein und erzeugen dann mehr Flexibilität und Veränderungsfähigkeit. Zum Beispiel zeigen die zehn Kaizenregeln eine richtige Mischung von Lockern und Setzen von Constraints, damit sich der Verbesserungs­prozess entwickeln kann [7].

[1]
Kiyoshi Suzaki: Modernes Management im Produktionsbetrieb.– Hanser 1989
[2]
Kiyoshi Suzaki: Die ungenutzten Potenziale, Neues Management im Produk­tionsbetrieb.– Hanser 1994. (Dieses Buch ist immer noch die beste Beschrei­bung des Nerven­systems im neuen Unternehmen aber in deutsch nur noch selten antiquarisch erhältlich. Die englische Ausgabe New Shop Floor Mana­gement ist noch im Handel.)
[3]
San-gen-shugi (jap.) bedeutet die Haltung der drei Gen (Genba, Genbutsu, Genjitsu). Wissen ist kontextabhängig. Die drei Realitäten geben uns den notwendigen reichen Kontext, um unser Wissen anwenden und nutzen zu können.
[4]
Um das Wissen weiter zu nutzen, setzen wir Methoden wie PDCA oder die sieben Managementwerkzeuge ein.
[5]
Erster Ansatz ist der Einsatz der sieben Qualitätswerkzeuge (siehe Grafik).
[6]
Hier sind wir schon bei fortgeschritteneren Anwendungen wie TRIZ und DOE.
[7]

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