Theorie und Wissen

Paul.Bayer am 25. August 2010 um 20:16

Bei manchen Leuten geht buchstäblich „der Rolladen herunter“, wenn sie das Wort „Theorie“ hören. Sicher, sie mögen schon so manche Enttäuschung mit Theorien oder „Theoretikern“ erlebt haben. Aber glauben sie wirklich, es geht ohne Theorie?

Demings System des tiefen Wissens

W. E. Deming hatte ein sehr praktisches Verständnis von Theorie. Ich glaube, er sagte einmal, es gäbe nichts prakti­scheres als eine gute Theorie. Eine „Theorie des Wissens”, also ein Verständnis von der Entstehung und der Bedeutung von Wissen zu haben, war für ihn ein wichtiger Teil seines „Systems des tiefen Wissens”. Theoriefeindlichkeit war für ihn deutliches Zeichen von Ahnungslosigkeit. Im folgenden Abschnitt aus „The New Economics” fasste Deming zusammen, was er unter einer Theorie des Wissens verstand:

Wissen baut auf Theorie auf. Die Theorie des Wissens lehrt uns, dass eine Aussage, wenn sie Wissen übermittelt, zukünftige Ergebnisse vorhersagt – und zwar mit dem Risiko, falsch zu liegen – und fehlerfrei zu den Beobachtungen der Vergangenheit passt.

Rationelle Vorhersage erfordert Theorie und entwickelt Wissen durch systematisches Hinterfragen und Erweitern von Theorie auf der Basis eines Vergleichs von Vorhersage und Beobachtung.

Der Hofhahn Chanticleer hatte eine Theorie. Er krähte jeden Morgen mit ganzer Energie, flatterte mit den Flügeln. Die Sonne ging auf. Der Zusammenhang war klar: sein Krähen bewirkte den Sonnenaufgang. Es gab keinen Zweifel über seine Wichtigkeit.

Dann gab es Schwierigkeiten und eines Morgens vergaß er zu krähen. Die Sonne ging trotzdem auf. Niedergeschlagen sah er, dass er seine Theorie revidieren musste.

Ohne seine Theorie hätte er nichts zu revidieren, nichts zu lernen.

Die ebene Euklidsche Geometrie diente allen gut auf einer flachen Erde. Jede Schlussfolgerung und jedes Theorem in einem Buch ist in seiner eigenen Welt korrekt.

Die Benutzung der Theorie der flachen Erde versagt, wenn der Mensch seinen Horizont auf größere Gebäude erweitert und auf Straßen, die über das Dorf hinausgehen. Parallele Linien nach Norden sind nicht äquidistant. Die Winkel eines Dreiecks summieren sich nicht auf 180°. Sphärische Korrektur ist erforderlich, eine neue Geometrie.

Es ist die Ausweitung der Anwendung, die die Unzulänglichkeit einer Theorie aufzeigt und die Notwendigkeit für Revision oder sogar für eine neue Theorie. Nochmals, ohne Theorie gibt es nichts zu revidieren. Deswegen gibt es ohne Theorie kein Lernen.

Theorie ist ein Fenster zur Welt. Theorie führt zu Vorhersage. Ohne Vorhersage lehren Erfahrung und Beispiele nichts. Ein Erfolgsbeispiel zu kopieren, ohne es mit Hilfe einer Theorie zu verstehen kann in ein Desaster führen.

Jeder vernünftige Plan, wie einfach auch immer, ist eine Vorhersage bezüglich der Bedingungen, des Verhaltens, der Leistung von Leuten, Prozeduren, Ausrüstung oder Material. [1]

Theorie und Praxis

Jede sinnvolle Aktion ist implizit oder explizit mit Erwartungen und Vorhersagen verbunden, also mit einer Theorie, wie sich die Dinge verhalten. Deming sagte auch, dass Management Vorhersage ist.

PDCA: Theorie und Praxis

Wenn uns also jemand eine Theorie anpreist, dann können wir ihn fragen, auf welchen Erfahrungen der Vergangenheit sie beruht, welche Tests sie bislang bestanden hat. Handelt es sich dabei um Wissen oder um eine neue Hypothese? Auf welchen Annahmen beruht sie? Welche Vorhersagen trifft sie? Wie können wir sie testen?

Schlägt jemand eine praktische Aktion vor, dann sollten wir ebenfalls die Erwartungen und die Theorie dahinter klären. Schließlich wollen wir ja etwas lernen.

[1]
W. Edwards Deming: The New Economics for Industry, Government, Education; MIT, 1994, S. 102 f

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4 Kommentare zu “Theorie und Wissen”

  1. Gerhard Friedrich

    Hallo, Theorie und Praxis sollten Zwillinge sein, aber es sind keine siamesischen Zwillinge, also gehen sie oft auch getrennte Wege.
    Ich habe vor langer Zeit das Thema der Praxisrelevanz systematisch analysiert, wahrscheinlich ist es vielen zu theoretisch, aber falls doch nicht, hier der Link:
    http://www.gerhard-friedrich.eu/detail.php?topic=1&doc=9

  2. Paul.Bayer

    Hallo Gerhard,

    danke für den Input. Theorie und Praxis sollten sich eher ergänzen als sich zu gleichen (Zwillinge). Das beinhaltet auch, dass es Spannungen und Ungleichzeitigkeiten geben kann so wie es Deming auch beschreibt.

    Der Zwillingseindruck entsteht vielleicht ein wenig durch die Grafik, auf der zwei parallele Achsen zu sehen sind. Aber man kann sich auch vorstellen, dass mit jeder Orientierung und Handlung ein Richtungswechsel erfolgen kann, ähnlich wie hier in Marcs Grafik.

    Deming (und ich) verwenden „Theorie“ im Sinne von Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Handlungsempfehlung, während „Praxis“ eher Aktion, Akt der Handlung bedeutet (vgl. Wiki). Deming steht in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus (James, Dewey, C.I. Lewis …). Dein Papier verwendet eine andere Bedeutung des Begriffspaars. Ich frage mich deshalb, ob die Aussagen vergleichbar sind.

    Herzliche Grüße,
    Paul

  3. Gerhard

    Hallo Paul,
    danke für die Antwort. Ich sehe da schon einen Bezug. Wenn bei Dir Theorie im Sinne von “Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Handlungsempfehlung” verstanden wird, so habe ich versucht, innerhalb von Theorien (ich spreche von Modellen, das scheint mir in diesem Kontext hinreichend gleichwertig) zu zeigen, wie Aussagen beschaffen sein müssen, um als Handlungsempfehlung zu taugen.
    Der Vergleich mit den Zwillingen war wirklich nicht sehr glücklich, auch wenn es nicht nur eineiige Zwillinge gibt.
    Herzliche Grüße
    Gerhard

  4. Paul.Bayer

    Hallo Gerhard,

    ja danke, jetzt ist es mir klar geworden. Die Frage, wie Theorie sich in Praxis übersetzt ist eine der spannendsten, schwierigsten und umstrittensten. Eines der – zumindest mir – eingängigsten und praktischsten Modelle dafür habe ich in „Drei Arten des Wissens“ behandelt: in Erzählungen (narrative) kommt auch der Kontext zum Tragen, der wichtig ist, wenn Theorie in Handlungen übersetzt wird oder aus Handlungen und Beobachtungen Abstraktionen gewonnen werden.

    Die Übersetzung von Theorie in Praxis wird natürlich auch noch durch die nötige Kommunikation erschwert, wenn es sich bei den „Theoretikern“ und den „Praktikern“ um zwei verschiedene Personen(gruppen) handelt. Diesen Fall behandelt Deming in seiner Erläuterung noch gar nicht.

    Ich glaube aber, dass das Modell in „Drei Arten des Wissens“ dafür einen Erklärungsansatz liefert: „Theoretiker“ brauchen soviel Praxis und „Praktiker“ soviel Theorie in einem gemeinsamen Feld, dass sie auch einen gemeinsamen Raum von Erzählungen haben, in dem sie ihre Erfahrungen und Sichtweisen austauschen können.

    Herzliche Grüße,
    Paul

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