PDCA und wissenschaftliche Methode

Paul.Bayer am 3. July 2012 um 22:04

In seinem Blogbeitrag „What’s Wrong with the Scientific Method” zieht Marc Hersch vom Three Sigma Systems Blog eine scharfe Trennungslinie zwischen der wissen­schaftlichen Methode und dem PDSA- oder PDCA-Zyklus von Shewhart und Deming:

  • Im PDCA-Zyklus geht es nicht nur darum, die Welt zu erklären, sondern vielmehr darum, das richtige zu tun, um ein Ziel zu erreichen.
  • Im PDCA-Zyklus nimmt der Handelnde keine scheinbar objektive, äußere Position ein so wie der Beobachter in der wissenschaftlichen Methode.

Betrachten wir zunächst die Unterschiede tabellarisch:

Wissenschaftliche Methode PDCA
1. Stelle eine Frage, resultierend aus einer Beobachtung. Stelle ein Ziel auf, resultierend aus deinem Situationsverständnis (Beobachtungen, Erwartungen).
2. Schlage eine Theorie vor, von der einige empirisch überprüfbare hypothetische Schlussfolgerungen abgeleitet werden können. Plan: Entwickle einen Plan, mit dem du das Ziel erreichen willst.
3. Führe ein Experiment durch, um zu beobachten, ob die erwarteten Konsequenzen wirklich eintreten, wenn die durch die Theorie definierten Bedingungen vorliegen. Do: Teste die geplanten Schritte und Maßnahmen zur Zielerreichung durch geeignete Experimente.
4. Überprüfe die Ergebnisse und ziehe geeignete Schlussfolgerungen:
a) Falls das Experiment gescheitert ist, gehe zurück zu Schritt 2.
b) Falls es noch andere erwartete Konsequenzen gibt, die noch nicht experimentell überprüft wurden, gehe zurück zu Schritt 3.
c) Andernfalls akzeptiere die Theorie vorläufig als wahr.
Check: Überprüfe die Ergebnisse und ziehe geeignete Schlussfolgerungen:
a) modifiziere deinen Plan (2.)
b) führe weitere Versuche durch (3.) oder
c) gehe zum nächsten Schritt (5.).
5. Handle entsprechend der bestätigten Theorie. Act: setze deinen Plan in geeigneter Weise und entsprechend dem bisher Gelernten um.

Meine Wahrnehmung ist, dass – gegenüber dem Alltagsverstand – wissenschaft­liche Methode und PDCA mehr Gemeinsamkeiten haben als Brüche und Trennungslinien:

  • Beide sind Methoden zum systematischen Lernen und helfen uns dabei, die Beschränkungen unseres Alltagsverstands, unserer Denkgewohnheiten und Vorurteile zu überwinden.
  • Beide beruhen auf Vernunft, Empirie und Skepsis.

Ich weiß, dass ich nichts weiß

Besonders durch die skeptische Grundhaltung („Ich weiß nicht”) unterscheiden sich sowohl wissenschaftliche Methode als auch PDCA vom üblichen Alltags­verstand, der in seinen scheinbaren Gewissheiten gefangen ist und sich selbst nicht in Frage stellt. Das „Ich weiß schon” und die Angst davor, sich auf Komplexität und Ungewissheit einzulassen, hält viele Leute vor der Anwendung der wissen­schaftlichen Methode und noch mehr von PDCA ab. Bescheidenheit und Einge­ständnis eigener Unwissenheit sind in Organisationen und Unternehmen eher Ausnahmen als die Regel.

Grundlage der Verbesserung ist die fragende Haltung. Die wissenschaftliche Methode ist eine methodische und experimentelle Vorgehensweise, um Fragen zu beantworten. PDCA baut auf der wissenschaftlichen Methode auf.

Der Shewhart-Zyklus des Lernens

Der Shewhart-Zyklus für Lernen und Verbesserung, der P-D-S-A-Zyklus

Falsche Annahmen loswerden, Ziele erreichen

Als Walter Shewhart und W.E.Deming die wissenschaftliche Methode zum PDCA weiterentwickelt haben, hatte soeben eine krude Form des tayloristischen „scientific Management” in der Industrie Einzug gehalten. Über diese Phase sind wir heute noch nicht sonderlich weit hinaus gekommen: Noch heute ist ein gründliches Training in wissenschaftlicher Arbeitsweise kein selbstverständlicher Teil der Ingenieur- und Managementausbildung und -praxis. Richard Feynman klagte auch angesichts der Zustände in Universitäten und im „Wissenschafts”-Betrieb, dass wir noch lange nicht in einem wissenschaftlichen Zeitalter leben [1]. Organisationen sind durchzogen von Pseudo-Wissenschaften und Cargo-Kulten. Das zeigt, wie weit Shewhart und Deming mit dem PDCA ihrer Zeit voraus waren.

Die wissenschaftliche Methode

Die wissenschaftliche Methode

Ein einfaches, daraus resultierendes Faktum ist, dass eine solide wissen­schaftliche Arbeitsweise mit Beobachtung und Experiment bzw. die durchgängige Anwendung von PDCA auch am Anfang des 21-ten Jahrhunderts immer noch einen klaren Wettbewerbsvorteil und Erfolgsfaktor darstellen. Sie erlauben uns, systematisch falsche Annahmen und Konzepte zu überwinden und das richtige zu tun. Mit Hilfe des PDCA-Zyklus müssen wir nicht immer wieder dieselben Fehler wiederholen und können unsere Ziele erreichen.

Gibt es „wissenschaftliche Objektivität”?

Marc stellt fest, dass uns die wissenschaftliche Methode zu stark einschränkt:

PDSA is not the scientific method and for good reason. The scientific method is a ball and chain view of the world that is killing us!

Er bezieht sich damit auf die Annahme einer Objektivität des wissenschaftlichen Beobachters. Diese Forderung ist spätestens dann eine Illusion, wenn der Akt der Untersuchung oder Beobachtung zum Teil des Geschehens und der Beobachter zum Handelnden wird:

  • Ein Quantensystem kann nicht beobachtet werden ohne es zu beeinflussen.
  • Bei jeder Untersuchung eines sozialen Prozesses wird der Beobachter Teil der Situation. Er bringt durch seine Anwesenheit, die Art seiner Beobachtung, seine Fragen usw. ein „fremdes“ Element ins Spiel. Dadurch werden die Ergebnisse beeinflusst. [2]
  • Jede Interpretation einer Beobachtung ist durch die Annahmen und den Blickwinkel des Beobachters verzerrt. Dadurch wird der Beobachter spätestens bei der Erarbeitung der Ergebnisse zum Teil der Untersuchung und damit zum Handelnden.

Die Annahme der Objektivität ist also nur bei wenigen Untersuchungen praktisch bzw. realistisch. Um sie aufrechtzuerhalten, muss der Wissenschaftler ein weiteres Element ins Spiel bringen, nämlich die Selbsterkenntnis und Selbstreflektion über die eigenen Beschränkungen und die eigene Rolle im Experiment. Diesem Prozess sind aber – wie wir wissen – Grenzen gesetzt.

Der Vorteil und die Schwierigkeit von PDCA

Der PDCA-Zyklus lässt also die Annahme der Objektivität fallen und stellt den Menschen in den Mittelpunkt des Geschehens indem er verlangt, dass der Handelnde seine Ziele ausdrücklich formuliert. Die Rückkopplungen zwischen dem Akteur von PDCA und dem Prozess, der verbessert werden soll, sind Teil des PDCA-Zyklus. Aber auch der PDCA-Zyklus entbindet uns nicht vom schwierigsten Problem der wissenschaftlichen Arbeitsweise: von der Selbstreflektion über unsere eigenen falschen Annahmen, die beim Durchlaufen des Zyklus deutlich werden. Taiichi Ohno sagte: „Check ist Hansei” [3].

Eine pragmatische Sichtweise

Meine Sichtweise zum Verhältnis von PDCA und wissenschaftlicher Methode sieht so aus: Ja, der PDCA-Zyklus geht weiter als die wissenschaftliche Methode, da er das Formulieren eines Zieles verlangt und die Annahme der Objektivität aufgibt, aber jeder Schritt im PDCA-Zyklus, jede Beobachtung, Überprüfung, Anwendung, Planung, jedes Experiment … erfordert die mehrfache Anwendung der wissenschaftlichen Methode. Das systematische Aufstellen, Klären und Infragestellen von Annahmen ist die Grundhaltung, auf der der PDCA-Zyklus aufbaut.

Die Sichtweise des kritischen Rationalismus

Karl Popper stellte fest, dass „alles nur Vermutung ist“ [4]. Es gibt keine wissen­schaftliche Objektivität sondern nur die Vermutungen bzw. Hypothesen, die man für wahr hält. Wer annimmt, er ist objektiv und unbelastet von Vorurteilen, sitzt einer Illusion auf. Es gibt aber eine objektive Wahrheit, der wir versuchen können, näher zu kommen. Wir alle, die Anwender der wissenschaftlichen Methode und von PDCA müssen uns unseres vorläufigen Wissens bewusst sein, mit Skepsis und Bescheidenheit an die Dinge herangehen und für Dialog und Kritik offen sein.

Im Management geht es um Handeln, oft unter Zeitdruck und in komplexen Situationen. Damit kann in der Regel noch weniger auf bewährte Theorien zurückgegriffen werden. Vorläufigkeit der Annahmen und Ungewissheit sind noch offensichtlicher als in der wissenschaftlichen Arbeit.

Edit 5.7.2012: Der Vorteil und die Schwierigkeit von PDCA
Edit 9.7.2012: Eine pragmatische Sichtweise
Edit 28.12.2012: Die Sichtweise des kritischen Rationalismus

[1]
Richard Feynman: Cargo Cult Science. Engineering and Science 37:7, Juni 1974, S. 10–13.
[2]
Ein bekanntes Beispiel dafür ist der sog. Hawthorne-Effekt.
[3]
Hansei bedeutet Selbstreflektion. Vgl. dazu „Toyotas Mühen, Toyota zu bleiben“.
[4]
Vgl. dazu den Vortrag von Karl Popper: „Alles ist nur Vermutung“.

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3 Kommentare zu “PDCA und wissenschaftliche Methode”

  1. Selbstmanagement Methoden - Treysse Privat Treysse Privat

    [...] Es handelt sich auch wiederum um eine unter Zielfindung / Zielerreichung einzuordnende Methode, die im weitesten Sinne auch einen Bereich des Selbstmanagements darstellt http://www.wandelweb.de/blog/?p=1384. [...]

  2. Birgit Behrens-Otto

    Vielen Dank für die umfassende Klärung dieser Frage!

    Nichts wird im Qualitätsmanagement in unzähligen Veröffentlichungen so falsch interpretiert wie der PDCA. Ich stimme völlig damit überein, dass wissenschaftliche Methode wie PDCA für Situationen mit grosser Unsicherheit entwickelt wurden. Übrigens in Zeiten des grossen Umbruchs zur modernen Massenfertigung /Industrialisierung von akademisch ausgebildeten Männern wie Shewhart, der ihn für die Stabilisierung und Verbesserung industrieller Prozesse vorgeschlagen hat und Deming, der ihn einige Jahrzehnte später weltweit verbreitet hat.

    Heute ist PDCA (im EFQM Modell tritt er als RADAR auf) mehr denn je ein ganz wichtiges Werkzeug, um mit Mut neue Dinge anzugehen.

  3. Gordon

    broad

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